Buch 3, bis Normdichte (Geld nicht mehr)
4.0 Hierarchie in der Gesellschaft
4.01Dynamik nach Pattee
(Die 4.0x-Kapitel sind eine Diskussion der “Hierarchy Theorie”, sind aber keine notwendige Grundlage für das darauf Folgende. Der Bezug auf sie wird genommen, weil sie sich am lehrreichsten mit der allgemeinen Strukturfrage beschäftigt haben.)
Mit dem begrifflichen Werkzeug von “Schwelle”, “Reaktion” und “Mehrstufigkeit” können wir die Ausführungen von Pattee über die Dynamik verfolgen. Auch ohne daß die bisher entwickelte funktionale Hierarchie in ihrem ganzen Umfang dort beschrieben wird, gibt es nützliche Hinweise, an Hand derer man weitere Momente des Hierarchiebegriffs beleuchten kann. Diese auf den ersten Blick etwas abstrakten und theoretischen Momente haben nämlich, wie sich zeigen wird, entscheidende Bedeutung für so konkrete gesellschaftliche Phänomene wie Macht und Ungleichheit.
Auf Seite 95 [Hierarchy Theorie, Hrsg. Howard H. Pattee; Georg Braziller, New York 1973] schreibt Pattee: "Hierarchische Steuerung erwächst aus einem Zusammenschluß von Elementen, wirkt aber auf die Individuen des Bereichs." Und etwas später: "Kanalisierung ("harnessing" = wörtlich: Zügelung) der Elemente durch die übergeordnete Ebene... etabliert die Autoritäts-Beziehung zwischen den Ebenen eines geschlossenen Systems." Hier werden bereits soziologische Termini verwandt. Im “harnessing” ist zusammengefaßt das aktive Steuern (Treiben, also die Lösung von Energie) und die passive Kanalisierung, die äußere Normung, die die Information nur in die beabsichtigte und keine andere Aktion umsetzt. Der Startschuß, das Signal für den Antrieb, löst die Energie des Läufers; die Markierungen, als Zeichen der Kanalisierung, geben ihm die Richtung vor, in der er zu laufen hat. Dagegen ist die Normung der Elemente der Gesellschaft eine Eigenschaft, die sie, die Elemente oder Individuen, im Laufe der Zeit durch Lernen erworben haben müssen - um überhaupt gelenkt oder getrieben werden zu können. Ein Arbeiter, Söldner, Revolutionär muß wissen, was ein Signal bedeutet und muß ausführen können und wollen, was es verlangt. D.h. das Schema, in dem menschliche Individuen angeordnet sind, erfordert eine stellungs- (ebenen-, schicht-) spezifische Vorprägung der Einzelnen, die sie zwingt und befähigt, als Elemente einer Schicht zusammenzuwirken.
4.02 Ränge und Kästchen,
Zusammenhalt und Gemeinsamkeit
Durch die Vermengung von Rängen mit den chinesischen Kästchen (der Ranghierarchie mit der H. des Enthaltenseins) muß die Norm, die die Zugehörigkeit der Individuen zu einer Schicht begründet, in dem mechanischen Bild als eine “near decomposible” Bindung oder Verbindung dargestellt werden. Pattee betont Anordnung und Beziehung der Individuen untereinander; die soziologische Betrachtung erfordert aber einen Blick in ihre Eigenschaften. Das Enthaltensein, auch mit jener Bindung, begründet keine Funktionalität. Der äußere Zustand des Eingebundenseins ist noch lange nicht die Folgebereitschaft oder gar die Fähigkeit, Information auf bestimmte Weise in Aktion umzusetzen. Soziologisch ist Bindung nur ein Teil der Gemeinsamkeit, sogar ein Verzichtbarer. Man kennt die Beispiele aus dem Mann schaftssport: “elf Freunde sollt ihr sein,” sagt er eine; der andere setzt sie unter Druck, unter “soziale Sättigung”, bis sie sich nicht mehr riechen können und in die Haare kriegen - der Erfolg gibt so richtig keinem recht. Anziehung oder Abstoßung sind offenbar neutral gegen den Effekt der gemeinsamen Bewegung.
Der Zusammenhalt kann eine Norm stärken, ist aber nur ein Teil der inneren Verfaßtheit, die die Norm begründet. Die einzige hierarchie-relevante Beziehung der Individuen einer Schicht besteht in Gemeinsamkeiten bezüglich des Verständnisses und der Übung, nicht in einer Wechselwirkung aus Anziehung oder Abstoßung. Eine lehrreiche Schwierigkeit bei Pattee, die erst durch die Behandlung von Informations- und Energiefluß, also die Funktionsweise der dritten Hierarchieform, der Dynamischen, aufgelöst wird. Dort ist es die Normung der Individuen einer Schicht, die auf eine Information die gleiche Reaktion aller erfolgen läßt.
Das gilt wörtlich so für eine militärische Übung. Im Produktionsbereich dagegen muß es nicht heißen „gleiche Reaktion“, sondern „vielfältige, aber auf dasselbe Ziel (zB das herzustellende Produkt) gerichtete Bewegung“. In dieser Richtung ist weitere Abstraktion denkbar. Der Controller z.B. produziert nicht, sondern hat zu rechnen im Sinne des Gewinns - das gemeinsame Ziel ist jetzt der Erhalt der Firma.
Mit den obigen Zitaten leitet Pattee zu einer Betrachtung der Elemente über, die, durch die Hierarchie ausgezeichnet, zu Steuerzentren werden. Bereits erwähnt wird, daß die durch ihre Stellung ausgezeichneten Elemente die Eigenschaft des Steuerns nicht in sich mitbringen. Für soziologische Folgerungen ist interessant, daß die Auszeichnung aus der Beziehung der Ebenen untereinander erwächst. Es ist also die hierarchische Stellung eines Individuums nach Pattee nicht notwendig durch seine Eigenschaften, sondern durch die Wechselwirkungen zwischen den Ebenen bestimmt. Es ist damit die Struktur, die die Macht verleiht.
Die Steuerwirkung des herausgehobenen Individuums setzt dann unabhängig von Kompetenz oder Persönlichkeit ein, nur bedingt durch seine Stellung, d.h. seine Zugehörigkeit zu einer übergeordneten Ebene. Mit nochmals anderen Worten: das herausgehobene Element befindet sich im Gerüst der Hierarchie an einer Stelle, an der es nichts anderes kann als steuern - oder Fehlsteuern. Seine Fähigkeiten bestimmen damit nicht über das Ob, sondern nur über das Wie der Führung. Die Voraussetzung des Gesteuertwerdens (der darunterliegenden Ebene) ist dagegen, wie zuvor erläutert, die Eigenschaft der Individuen, z.B. in Form von Folgebereitschaft und Folgefähigkeit.
Zum Gerüst: man könnte meinen, es sei so etwas wie ein von außen, von Gott oder der frühen Struktur der Welt vorgegebenes Gesetz, das die Materie nach seinem Muster ordnet. Aber wie fast alles, was entsteht, läßt sich auch das auf einen evolutionären Verlauf zurückführen. Denn sobald es darum ging, eine Mehrzahl von Individuen - seien es Zellen oder Lebewesen - gemeinsam zu bewegen, war zumindest (zu allermindest) ein Taktgeber, allgemeiner ein Organisator nötig, der sich hierarchischer Steuerung bedienen mußte. Damit waren Individuen, die sich nicht zu solchen Bereichen ordneten auch der Vorteile jener Steuerungsmöglichkeiten beraubt und von der Weiterentwicklung ausgeschlossen. Sie bildeten keine Mehrzeller, keine koordinierten Jagdgesellschaften, keine Staaten, keine globalen Imperien - trugen aber auch nicht deren Risiko.
4.04 Steuerung, Antrieb, Lenkung
Übrigens faßt der Terminus “Steuerung” sowohl Antrieb als auch Lenkung unter sich. „Reine“ Lenkung entspräche dem Einschlag des Lenkrades in einem antriebslos rollenden Auto, reiner Antrieb einem Tritt auf das Gaspedal. Soziologisch gewendet, erklären die Begriffe den Unterschied zwischen der Ingangsetzung eines Prozesses und der Bestimmung seiner Umstände, insbesondere seiner Richtung. Wird eine Baumaßnahme beschlossen, entspräche dies einem Druck auf das Gaspedal; wir hätten Antrieb, Bereitstellung von Ressourcen oder hierarchische Lösung von Energie. Der Beschluß setzt die ganze Maschinerie in Bewegung, die zur Errichtung eines Bauwerks nötig ist. Wird dagegen über den Standort des Bauwerks entschieden, würde man eher von Lenkung sprechen. Diese Entscheidung ändert wenig an Material- und Energieverbrauch, sie bestimmt nur den Ort, an dem er stattfindet. In der Wirtschaft wäre Antrieb die Gewinnung und die Verbrennung der Kohle; die eigentliche Produktion und Lenkung wäre die Bestimmung des Transportweges, die Bestimmung des Abnehmers, der Handel.
Ob ein Aufruhr in einer Plünderung oder in einem Systemwechsel endet, ist eine Frage der Lenkung. Daß er stattfindet, ist eine Frage der Auslösung, also des Antriebes. Der Wetter-Schmetterling kann beides symbolisieren; er kann sowohl über den Ort eines Wirbelsturmes als auch über sein Eintreten bestimmen. Letzteres ist etwas schwerer vorstellbar, könnte aber vorkommen, wenn beispielsweise die (in der Atmosphäre) angesammelten Energien ohne seinen Flügelschlag nicht ausbrechen, sondern in einem Hoch, ganz zwanglos, nun, wie die Sexualität eines Priesters, sublimiert würden. In einem gesellschaftlichen Prozeß jedenfalls sind beide Anteile (Antrieb und Lenkung) immer gemischt und werden bei hierarchischen Wirkungen nur unterschieden, wenn es nötig ist. (oder: Antrieb bestimmt wieviel - Lenkung bestimmt wann und wohin)
4.1 einige Definitionen (kommentierte Zitate):
Eigentlich sollte versucht werden, die herkömmlichen Definitionen von "Hierarchie" aus den soziologischen Lexika zu entnehmen und daran den Begriff ausführlicher zu erläutern. Es zeigte sich aber, wie bereits geschildert, daß die Ausbeute auch aus Standardwerken der Soziologie sehr mager ausfällt. Die folgenden Zitate konturieren und repetieren nichtsdestoweniger den Hierarchiebegriff und geben darüberhinaus Gelegenheit, ihn zu vervollständigen.
Im "Wörterbuch der Soziologie", [7] Hartfiel/Hillmann, Kröners Taschenbuchausgabe 1982, findet sich folgende Eintragung:
“Hierarchie (griech.), "heiliger Ursprung", "heilige Herrschaft"; in der kathol. orthodoxen und anglikanischen Kirche Bezeichnung für die der Kirche von ihrem Stifter Jesus Christus gegebene (nebenbei eine glatte Unterstellung; allenfalls die einstufige H. hat er mit seiner Schar vorgelebt: er legte das Wort aus und entschied, die Jünger standen in einer gelinden Hackordnung darunter) Ordnung die Gesamtheit der nach Rängen gegliederten Träger von Kirchengewalt; soziol. Bezeichnung für eine bestimmte Struktur der horizontalen und vertikalen Gliederung der Positionen bzw. Funktionenträger in einer Organisation. Die H. ist idealtypisch ein festes präzises System der Über- und Unterordnungen, in dem alle Entscheidungsbefugnisse, Kommunikationswege und Zuständigkeiten pyramidenhaft von einer obersten Spitze bis hinunter zu einem sich stufen- und rangweise immer weiter verzweigenden Unterbau institutionalisiert sind. Außer der obersten Leitung (die nur "dispositiv" wirksam ist) und den untersten Ranginhabern (die nur auf "höhere" Anordnung hin rein "exekutiv" tätig sind) sind alle anderen Positionen gleichzeitig sowohl Vorgesetzte als auch Untergebene. Horizontale gegenseitige Abhängigkeiten oder soziale Aktivitäten gelten in der H., soweit sie nicht von vertikal übergeordneter Stelle ausdrücklich vorgesehen und kontrolliert werden, als regelwidrig.” Man sieht, wo die nichtproduzierenden oder Kontroll-Hierarchien betrachtet werden, wie diejenigen der Kirche oder bei Luhmann die der Verwaltung, fehlt der Bezug zu den Ressourcenströmen und zur gemeinsamen Steuerung von Vielheiten. Andeutungsweise erscheint er hier sechs Zeilen zuvor in dem hervorgehobenen Terminus „exekutiv“, was man als Wirkung, Reaktion oder Ingangsetzung einer Ressource deuten könnte.
Und weiter: “Die H. mit ihren klaren eindeutigen Kompetenzen, Befehlswegen und vertikalen Zuordnungen ist die ideale Organisationsstruktur zur Durchsetzung eines einheitlichen obersten Willens innerhalb einer Organisation und im Verhältnis der Organisation (insbes. als Herrschaftsinstrument) gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt. Sie bewährt sich bei der Lösung fester, längerfristig gleichbleibender Aufgaben. Mit der Dynamik moderner ges. Entwicklung, die überall von außen induzierte Anpassungsleistungen verlangt, hat sie ihre Wirksamkeit weitgehend verloren. Überdies widerspricht sie den Forderungen nach Demokratisierung.” Die Folgen der o.g. Einschränkungen treten sofort zu Tage. Der Zweck und die gesellschaftliche Wirkung der Hierarchie werden ausgesprochen, aber auf wiederkehrende Aufgaben eingeschränkt. Angesichts der gewaltigen und ständig ausgeübten Steuerung der allgegenwärtigen Ressourcenströme eine unerlaubte Vernachlässigung - auch einmalige Aufgaben werden hierarchisch gesteuert. Zudem haben wir wieder die populäre Sicht, die eng mit einer Wertung verknüpft ist und die Funktionsweise scheinbar kaum wahrgenommen hat. Wenn das Bild der Struktur durch die formalen Ränge und ihre Darstellung geprägt wird, ist natürlich nicht zu erkennen, daß Demokratie nur eine durch Abstimmung selektierte und in allen gesellschaftlichen Bewegungen weiterwirkende Hierarchie ist.
Kurz nach der Wende gab es im Osten so demokratische Exzesse wie die Wahl von Betriebsleitern durch die Belegschaft und Ähnliches. Aber schon wenige Monate später mußten die Wähler erfahren, daß das Geld weit effektiver lenkt und kontrolliert als die Stasi. Die erwähnte Gefahr der Erstarrung ist tatsächlich gegeben; die Globalisierung vermeidet sie aber nicht durch Abschaffung oder Schwächung der Hierarchie, wie vielfach postuliert, sondern durch deren Flexibilisierung. Was verkannt wird, ist die permanente Lenkung zB des Wirtschaftslebens durch die (Inhaber der) abstrahierten Werte (Geld, Aktien, Derivate), wenn auch ohne jede Form festgeschriebenen Rituals zu ihrer Hervorhebung. Das einzige verbliebene Ritual ist der Glaube an besagte Werte.
Mit seinem (des Glaubens) Verlust bricht allerdings der gesamte Ressourcenstrom, also die Wirtschaft, zusammen. Schon geringe Irritationen am Aktienmarkt machen ja gegenwärtig bereits Heerscharen von Abhängigen überflüssig. Sie zeigen die ganze Macht der Organistion, denn sie sorgen für die Verbreitung von Elend, ohne daß auch nur eine einzige Ressource verarmt wäre.
Das lange Zitat oben wurde angeführt, weil es durchaus zutreffend bestimmte Momente der Hierarchie zeigt. Was der Ergänzung bedarf, ist die Funktionsweise, der eigentliche (dynamische) Kern ihres Wirkens. Seine Unterbewertung bzw. Vernachlässigung hat zur Folge, daß die höchste Ausprägung von Hierarchie, die Unterwerfung der Welt unter eine konzentrierte ökonomische Lenkungsmacht, verschleiert werden kann.
Es folgen im genannten Werk einige Bemerkungen zur "dysfunktional" werdenden Hierarchie im Zuge der fortschreitenden horizontalen Vernetzung, zur Prägung der autoritären Persönlichkeit und zu der Hemmung von Emanzipationsbestrebungen durch sie. Natürlich sind dies Folgen der Hierarchie, die auch bei rein funktionaler Etablierung bleiben. Möglicherweise liegt in dieser moralischen Bewertung eines bloßen Strukturbegriffes die Ursache für das Desinteresse sogar der Wissenschaft an ihm. Abschließend wird das Risiko einer Enthierarchisierung für das Funktionieren der ges. Lebenszusammenhänge erwähnt, was zwar bereits auf die Funktionsweise und den Einfluß hierarchischer Strukturen deutet, aber die moralische Wertung beibehält. Mehr dazu im nächsten Kapitel 4.2 "Formal- und Funktionshierarchie".
Ähnlich, jedoch nur über eine halbe Spalte, läßt sich das "Lexikon zur Soziologie", Westdeutscher Verlag 1978, ein, wobei die Rangordnung der Weisungsbefugnisse von der Rangordnung der Über- und Unterordnungsverhälnisse unterschieden wird. Dies deutet auf eine Unterscheidung von statischer und dynamischer Hierarchie - eine Voraussetzung zur Behandlung von Formal- und Funktionshierarchie (s.u.).
Noch knapper, nämlich 10 Zeilen, ist das "Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Soziologie", Westdeutscher Verlag 1978, gehalten. Die strengste Durchsetzung der Hierarchie in der Praxis einschließlich offener byzantinischer Formalitäten trifft hier auf die entschiedenste Ablehnung des Begriffs in der Theorie.
4.2 Ein wesentlicher Unterschied zwischen
Formal- und Funktionshierarchie
Mit der Darstellung der Funktionsweise von Hierarchie läßt sich die Unterscheidung von Formal- und Funktionshierarchie vertiefen. Zugleich treten die Disparitäten der Hierarchie des “Enthaltenseins” mit derjenigen der Rangung hervor. Obwohl sie beide ihren Beitrag zur Funktionshierarchie leisten, sind sie voneinander unabhängig. Wir hatten gesehen, daß es beim Enthaltensein keine Unter- und Überordnung von Ebenen gibt. Damit ist zwar eine gemeinsame Bewegung durch jene “near-decomposible”-Kopplung möglich, aber es gibt darin keinen Platz für steuernde Ebenen oder Elemente. Diese werden erst mit der vertikalen Rangung möglich. Die Gliederung des Enthaltenseins Arbeitsplatz-Abteilung-Firma ist nur die topologische Entsprechung für die Rangung Arbeiter-Manager-Chef. Um funktionale Hierarchie zu erhalten, muß zum Enthaltensein also die Rangung hinzukommen. Erst dann kann ein in Kaskaden von oben nach unten wachsender Energiefluß eine Information in Aktion verwandeln.
Hierarchie im Unbelebten?
Die Hierarchieebenen in der Physik bei Simon (oben zitiert in "Hierarchy Theory") sind Gebilde, die die Elemente der unteren Ebenen in sich enthalten. M.a.W. die höheren Ebenen sind nur Zusammenfassungen der unteren und ihre “Höhenlage” ist nur Folge von Abstraktion, Menge und Wertung. Enthaltenes wird einfach zum Umfassenden addiert und die sich ergebende Menge, nicht aber die Steuerungsleistung ist dann das Maß für - ja für was? - für die hierarchische Bedeutung. Die Düne enthält die Sandkörner, die sie bilden, die Stadt die Häuser, die Galaxis die Sterne und das Lebewesen die Zellen, aus denen es besteht. Aber die Düne ist nicht “über” den Sandkörnern; sie steuert sie nicht, das Lebewesen ist nicht über den Zellen. Der Körperteil enthält seine Muskel-Zellen, aber das Nervenzentrum steuert die Muskelzellen, ohne ihr Bestandteil zu sein. Die Brigade enthält die Arbeiter, aber wo ist der Polier? Er ist außerhalb der (Ebene der) Arbeiter aber innerhalb der Firma. Man muß die Ebene verlassen und in die Höhe, d.h. in die dritte Dimension gehen, um ihn zu lokalisieren. Das “Enthaltensein...” kann nicht die Separierung der Ebenen durch Zusammenfassung und Abstraktion von der konkreten Separierung unterscheiden, da die steuernden Elemente sich außerhalb der gesteuerten befinden.
Diskutiert werden darf die Frage, ob es eine Funktionshierarchie in der physikalischen (präbiotischen) Welt überhaupt gibt. Für die H. des Enthaltenseins sind gerade einige Beispiele angegeben worden. Eine Steuerung, ja gleich eine kybernetische ist die Art, in der Fixsterne sich durch einen Energiestrom selbst erhalten. Nimmt der Energiestrom, hier die Strahlung, ab, schrumpft der Stern. Die Schrumpfung erhöht den Innendruck, dieser die Anzahl der Fusionen und damit die Strahlung, die den Stern wieder auseinandertreibt. Das vergrößerte Volumen hat wieder einen geringeren Druck zur Folge; es gibt weniger Fusionen und, siehe oben, der Stern schrumpft. So steuert das Volumen die Strahlung und diese das Volumen. Es gibt eine gegenseitige wechselnde Dominanz, aber eigentlich keine permanente Hierarchie. Ein separates Steuerzentrum ist nicht auszumachen; dieselbe Grösse kann sowohl steuernd als auch gesteuert sein. Sie kann die Energie zur Information als auch diejenige liefern, die den Bereichserhalt sichert.
Den Ansatz für ein Steuerzentrum im Präbiotischen könnten die sog. Verzweigungspunkte bilden. Sie entscheiden im Sinne von Lenkung mit einem Aufwand an geringster (“Informations-“) Energie, wann und wo eine großes Ereignis stattfindet. So kann der Wetter-Schmetterling mit seinem Flügelschlag zwar keinen Wirbelsturm erzeugen, aber wenn es nah beeinander zwei Orte gibt, die kurz vor dem Umkippen in die Drehströmung sind, kann er durchaus darüber entscheiden, welcher Wirbel beginnt und damit den anderen aufsaugt. (Hier ist nicht wie bisher, seine Rolle als Anlass gemeint, sondern als Entscheider zwischen zwei Möglichkeiten) Wir haben also beim Fixstern die Steuerung ohne ein Zentrum aber im Sinne des Systemerhalts und beim Wetter-Schmetterling das hierarchische Steuerzentrum ohne ein erkennbares zu erhaltendes System.
Gibt es dann aber eine Konfiguration des Präbiotischen, die rein die funktionale Hierarchie exekutiert? Wer will, mag sie suchen. Ohne einen Sinn oder ein Ziel, das die unbelebte Natur aber nicht zu kennen scheint, wird er dergleichen wohl nicht finden.
4.3 Hierarchie und Funktion
Bei Luhmann, [13] “Soziale Systeme” stw 666, heißt es auf S. 405, mittl. Absatz, “Es trifft, realistisch gesehen, einfach nicht zu, daß soziale Systeme sich durchweg in der Form von Hierarchien bilden,.... Es gibt jedoch offensichtlich auch andere Möglichkeiten, vielleicht weniger leistungsstarke, damit aber auch leichter erreichbare Formen. Wir sehen sie in einer Bewährungsauslese an Hand von Funktionen.”
Da Funktion aber gerade, wie hier im Kap. 3.0 “Information” dargestellt, die statische Hierarchie zur Voraussetzung hat und die Bewegungsweise dynamischer Hierarchie ist, kann sie nicht als eine “andere Möglichkeit” gelten. Funktion ist unlösbar mit Steuerung verbunden und Steuerung setzt Hierarchie voraus. A. Benninghoff definiert “Funktion” als “die Ausrichtung der Teilvorgänge auf das Ganze” und “funktionelles System” als die “übergreifende Einheit, in der prozeßhafte und formhafte Äußerungen des Lebens harmonisch gegliedert sind”. (Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Kösel, 1973, S. 511) Mit dieser Formulierung ist der Doppelcharakter der Funktion als Vorgang und als bauliche Vorkehrung erfaßt. Die Klingel hat die Funktion der Signalgebung und die funktionierende Klingel gibt das Signal. (...das eine Aktion zum Nutzen des Systems Klingel-Tür-Bewohner initiiert)
Oder: die Hand verkörpert die Greiffunktion und sie funktioniert, wenn sie greift. Gesteuert durch den Hunger und die Information „greifbare Nahrung vorhanden“ beginnt die Hand zu funktionieren und befriedigt ein Bedürfnis zum Nutzen des Ganzen, hier: des Essers. Sie ist Bestandteil der hierarchischen Steuerung des Gesamtsystems und verwirklicht in sich noch einige Unterstufen dieser Steuerungsweise. Damit drückt Funktion aus, was hier (Buch_1) als die bereichserhaltende Reaktion und ihre baulichen Vorkehrungen zu diesem Zweck entwickelt worden ist. Wir finden die Stufen der Energielösung und sehen, wie diese Stufen hinab die Wandlung von Information in Aktion stattfindet. Anders kann die “Ausrichtung auf das Ganze” nicht verstanden werden. In ihr ist versteckt, was hier als “bereichserhaltend” und diesem Zweck dienlich beschrieben wurde. Oder so: Der Funktionär ist die bauliche Vorrichtung oder das funktionierende Teil, die Funktion ist die vorgesehene, organisatorisch vorbereitete bereichserhaltende Reaktion und das Funktionieren ist das Eintreten dieser Reaktion.
Wenn immer etwas funktioniert, dann heißt dies, daß auf einen Anlaß, der durch seine Folgen als Information zu interpretieren ist, eine Veränderung stattfindet, die dem Erhalt des Ganzen (des Bereichs, des Funktionierenden) dient. Statischer und dynamischer Aspekt sind in “Funktion” eng miteinander verwoben, da Funktion nicht ständig funktionieren, aber baulich so vorgesehen und gestaltet sein muß, daß sie auf den gegebenen Anlaß hin in Gang kommt. Funktion ist wirkende Hierarchie. Sie verbindet Ursache und Wirkung im Sinne der Dauer ihres Trägers. Ursache ist die Wahrnehmung, die Veranlassung, der Befehl, die Warnung, der Druck auf den Knopf, kurz, die Information und die durch sie veranlaßte Wirkung ist die Lösung von Makro-Energie, d.h. die beabsichtigte Reaktion, die dem Erhalt oder dem Wohl eines zuvor definierten Bereichs dient. Die bauliche Vorrichtung (Fahrstuhl, Bremse, Motor, Nervensystem, Extremität, Organ, Abteilung einer Firma, militärischer Arm, Organigramm usw.), die damit zum Zweck (-erfüller) wird, sorgt für die kausale Verknüpfung von Anlaß und Wirkung.
Daß in der Funktion auch der Bereichserhalt eine entscheidende Rolle spielt, erhellt aus dem Beispiel des Feuers. Im Kamin hat es die Funktion des Stubenwärmers; im Dachstuhl, wo es das Haus vernichten kann, zögert man, ihm überhaupt eine Funktion zuzusprechen. Es sei denn, daß es zu einem höheren Zweck dort entzündet wurde, beispielsweise dem der Schröpfung der Versicherung oder der Liquidierung des Bösen, hier also dem Erhalt der Zahlungsfähigkeit oder des Guten schlechthin.
Zur Erinnerung: In Abb. 1c ist die Wirkungsweise der dynamischen Hierarchie veranschaulicht. Die abfallende Wellenlinie (statisch) zeigt uns die vorgesehene Bahn als bauliche Vorkehrung; der Lauf der rollenden Kugeln, den nur ein Video wiedergeben könnte, zeigt die Funktionsweise. Die bauliche Vorkehrung hat hier die Gestalt einer fallenden Wellen-Kaskade, auf der eine Kugel, von oben kommend jeweils die darunterliegende - größere, schwerere, energiereichere - über eine Schwelle hinweg in Bewegung setzen kann. Da der Lauf der Kugeln durch die Form der Bahn kanalisiert ist, stellt diese (Form) das Verständnis, die Folgebereitschaft, die Übung, die Disziplinierung, die Kanalisierung, kurz die Norm dar. Im oben zitierten Handbuch steht dafür die “harmonische Gliederung”. „Harmonisch“ kann aber nur für den betreffenden Bereich und seinen Erhalt gelten. Destruktion beispielsweise wird nie harmonisch genannt. (Wo dies trotzdem geschieht, wie beim Zerkauen eines guten Essens, da sehen wir den Erhalt des übergeordneten, größeren Bereichs in Gestalt des Gourmets gewährleistet.)
Wird eine Anweisung ausgesprochen, so entspricht dies dem Anstoß der obersten, und wegen der geringen Energie des Stimmschalls, der kleinsten Kugel. Diese rollt herab, wobei ihr Anstoß die Nächstgrößere bewegt, deren Energie meinetwegen jetzt der Armkraft des Steuermannes entspricht. Es ist sein Verständnis, das die durch Sprache strukturierte Schallenergie zu Information macht. Wenn der Steuermann nun tatsächlich das Rad im angeordneten Sinne bewegt und nicht sich eine Pfeife ansteckt oder ins Meer spuckt, so liegt das an seiner Normung, am Gelernten und Geübten, das ihn instand setzt, eine Anweisung zu verstehen und auszuführen.
Die Normung wird hier in der Abbildung als Kanalisierung symbolisiert durch die Form der Bahn, die die Kugel zwingt, ihre Aufgabe zu erfüllen, d.h. die Nächstgrößere anzustoßen und nicht sonst irgendwohin zu rollen. Setzt sich schließlich die letzte und größte Kugel in Bewegung indem sie ihre Energie abgibt, so entspricht dies dem Anlaufen der Maschinen, die mit soundsoviel tausend PS den eigentlichen Effekt, die Ausfahrt des Schiffes, bewirken.
Erst der hier entwickelte Ablauf von Information holt auch den Begriff der Funktion aus dem Nebel und gestattet es “Funktion” als Vorgang oder Vorrichtung zu definieren, die auf bestimmte Einflüsse so Energie löst, daß sie einem beabsichtigten Zweck, dem Erhalt zuvor definierter ) Bereiche (oder der Bereiche, denen sie angehört) dient.
Mit der Entlarvung von Funktion als wirkender Hierarchie erweist sich ihre moralische Wertung einmal mehr als obsolet. Hierarchie ist ebensowenig gut oder böse wie die Gravitation. Gravitation hängt mit der Masse (von Massen) zusammen; Hierarchie in Gesellschaften ist die Strafe für, nein die Folge von Verdichtung, von jener Art Verdichtung, die individuelle Alternativen beschneidet und Arbeitsteilung, Konzentration der Kräfte, gemeinsames Handeln, also einen höheren Organisationsgrad erfordert.
4.4 Hierarchie und Herrschaft
Nehmen wir Weber "Wirtschaft und Gesellschaft", (bei Mohr, Tübingen 5. Aufl.) Band1, S. 28: "Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden." Die nötige Pyramidenstruktur, die erst aus der Dominanz eine Hierarchie macht, könnte angedeutet worden sein dadurch, daß das Herrschende in der Einzahl und das Dienende in der Mehrzahl erscheint. Das Herrschaftsverhältnis erfordert entweder Macht von oben und/oder Akzeptanz von unten. Es wird im weiteren (wieder Weber) als das charismatische, als traditionales (Überlieferung) oder legales (Vereinbarung, Verwaltung) Führer-Gefolgschaftsverhältnis bestimmt.
In jedem Fall hat die untere beherrschte Ebene bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen. "Unter Herrschaftsordnung wird in der politischen Soziologie die durchgehende Struktur aller politisch relevanten Herrschaftsverhältnisse in einem gesellschaftlichen Ordnungszusammenhang verstanden." (ebd.) Weitgefaßt. Nicht sehr deutlich wird der Tatsache Rechnung getragen, daß außer Stellung, Macht und Akzeptanz noch eine spezielle Formung und Einübung - die Disziplinierung - und als deren Voraussetzung vor allem anderen ein Verständnis auf der jeweils darunterliegenden Ebene erforderlich ist. Sei es Verständnis (als Grundvoraussetzung), psychische Kanalisierung, Disziplinierung, technische Ausbildung, Erziehung, Zustimmung oder Training - mit bloßer Akzeptanz wird ein Befehl nicht ausgeführt. Ein Orchester muß nicht nur spielen wollen, sondern auch können. (Dazu näheres unter 4.5 "Norm")
Jedenfalls darf man generell zum Verhältnis von Hierarchie und Herrschaft sagen, daß die letzte die erstere voraussetzt. Die Herrschaftsordnung ist, sofern nicht nur eine Zweier- oder Dominanzbeziehung gemeint ist, eine hierarchische Ordnung. Beide bilden die Ebenen, die Richtung des Energie- (Befehls-, Informations-) flusses und die meist pyramidenförmige Strukturierung der Betroffenen ab. Allerdings könnte die Pyramide in dem Falle, wo eine Mehrheit die Minderheit beherrscht, auch umgedreht werden. Das würde die in fast allen Definitionen genannte Voraussetzung dieses Strukturmerkmals der Hierarchie aber entfallen lassen. Im Moment des dynamischen Funktionierens, und sei es nur temporär oder durch Abstimmung beschlossen, geht der Befehlsfluß jedoch wieder von einer Person, einem Signalgeber aus, so daß man sagen darf: Herrschaft ist die Nutzung hierarchischer Strukturen.
Das gilt auch in der idealen Demokratie, wo zwar die Generallinie per Abstimmung festgelegt wird, die Informationen über die auslösenden Ereignisse aber an einem Punkt zusammenfließen und von diesem aus wieder verteilt werden müssen. Es mag manchmal sich anhören, als würde das Volk die und die Anordnung treffen oder das und das vom Gesetzgeber verlangen. In Wirklichkeit ist die Aussage nur: Wir haben mehrheitlich zu erkennen gegeben, dass wir den verkündeten Absichten des Wahlsiegers zuneigen. Wenn er nun die und die Anordnungen trifft, sind wir bereit, sie zu befolgen. Was also von unten nach oben geht, ist eher eine Nachricht über die Norm, über die Zumutbarkeit von Absichten, über das was befolgt werden kann.
4.4.1 Die Problematik des Stärksten
enthüllt eine Eigenschaft der Hierarchie, die sie selbst stabilisiert. Die normalen Verhältnisse physischer Kräfte beim Menschen erlauben es z.B. einem Oberhaupt, vielleicht zwei bis drei Mitgliedern seiner Horde physisch zu widerstehen, keinesfalls aber allen (sagen wir zehn). Trotzdem sind jene Zehn, auch bei größter Abneigung gegen den Anführer kaum imstande, ihn zu vertreiben. Dazu bedarf es geheimer oder wenigstens intuitiver Abstimmung (mindestens zur Herstellung von Gleichzeitigkeit), es bedarf der Organisation und Koordination des Umsturzes und das bedeutet in der Regel wieder die Einordnung in eine, wenn auch nur temporäre Gegen - Hierarchie. Die aber kann der etablierte Anführer, da er auf jeden Fall dem Zweitstärksten überlegen ist, bereits während ihrer Entstehung nachhaltig und tatkräftig stören.
Um Größenordnungen schwieriger ist es, sich gegen eine Hierarchie mit eingesessener Verwaltung und gewachsenen Strukturen durchzusetzen. Nicht (oder erst unter 4.5) zu reden von der Arbeit der Normung, die für die revolutionäre Um-Etablierung einer Hierarchie nötig ist.
4.4.2 Ein brachiales Beispiel für
die Macht der etablierten Hierarchie
oder der “Hierarchie an sich”:
Ist eine Hierarchie erst etabliert, d.h. mit allen Kommunikationskanälen versehen, mit der Verfügung über die Helfer (in Form der Beamtenschaft und des Militärs) ausgestattet, diszipliniert und eingeübt und maßgebend an der Ressourcensteuerung beteiligt, dann können die Nutznießer ihre Macht völlig unabhängig von Zustimmung und Folgebereitschaft der Gelenkten ausüben. Die reine Hierarchie ist zur Macht geworden und setzt sich gegen breiteste Ablehnung, gegen jeden inneren Widerstand durch.
Ganz Belgien ist empört über eine Handvoll Kinderschänder. Obwohl sie nie bejubelt wurden wie andernorts die Führer, schämt sich die Nation für sie. Sie schämt sich ohne Grund; schändlich aber unbeeinflußbar ist allenfalls die universelle Macht der Hierarchie, gegen die jede noch so starke Norm ) der Empörung nichts vermag. Hier ist tatsächlich die reine Struktur wirksam, wenn man absieht von dem Teil der Norm, der das Können der Helfer betrifft. Ansonsten braucht es nicht die Spur eines Einverständnisses zu geben.
Genau genommen ist die Folgebereitschaft bis zur vorletzten Stufe durchgesetzt. Nur die letzte, der regierte Bürger, hat sie nicht. Vom Kabinettsmitglied bis zum Polizisten ist sie natürlich gegeben - wenn auch nur in einzelnen dünnen Strängen. Diese genügen jedoch, um so einen eng begrenzten Bereich wie einen Kriminalfall vollständig zu steuern. Man kann nur hoffen, daß der gegenwärtige Prozeß diese Stränge zerreißt.
Bei Hitler, der die Macht der Hierarchie weit umfassender genutzt hat, ist sie nicht so rein dargestellt. D.h. nicht nur die Struktur und das kalte Können, sondern auch weitverbreitetes Wollen waren auf seiner Seite. Er konnte sich zeitweise zusätzlich auf begeisterte Zustimmung, also eine starke Norm stützen. Bei den Kinderschändern existiert keinerlei Norm der Zustimmung. Sie wurden nie bejubelt; sie sind einzig auf Grund ihrer hierarchischen Stellung unangreifbar. Zeugen und Investigatoren erleiden rätselhafte Unfälle, Akten verschwinden, Richter wechseln die Stelle, die wütendsten Demonstrationen gehen ins Leere... hier hat sich die Hierarchie (wenigstens temporär) von ihrer eigenen Voraussetzung, der Folgebereitschaft gelöst.
Diese Macht ruht auf dem Organisationsgrad, der wiederum unverzichtbar und unwiderstehlich aus der Verdichtung erwachsen ist. Ohne den Zusammenhang an dieser Stelle auszuloten, soll nur an die Erfahrung erinnert werden, daß eine wachsende Gemeinschaft durch eine wachsende Zahl von Regelungen, Ritualen, baulichen Vorkehrungen, Übungen usw. usw. organisiert werden muß. Der zum Überleben benötigte Ressourcenstrom fordert eben einen angemessenen Organisationsgrad und dieser bringt unweigerlich Beauftragte, Beamte, Privileg und Bürokratie. Auf welchem Wege auch immer, wir kommen wieder einmal zur Verdichtung als der Wurzel des Elends.
4.4.3 Hierarchie und Disziplin
(ein Vorgriff und eine Vorbereitung
auf das Kap. 4.5 “Norm”)
Wenn bei Hobbes die Möglichkeit (der Anweisung zu folgen) eine Voraussetzung der Machtausübung ist, dann steckt darin implizit die Forderung nach dem Können und Kennen der Gelenkten. (Ihr Wollen ist zwar auch ein wichtiges Moment der Folgebereitschaft, kann aber durch den Zwang ersetzt werden. S.auch 4.5.4 “Die drei Momente der Norm”) Ein Mächtiger fordert nur, was diese können. Eine nicht zu erfüllende Forderung stellt die Kompetenz des Fordernden in Frage und untergräbt schließlich seine Macht. Die Möglichkeit, gegen den Willen Dererdaunten regieren zu können, resultiert aus der Rolle der Disziplinierung, die Foucault [zB “Überwachen und Strafen”, Suhrkamp TB 2271] wohl am entschiedensten, wenn auch einseitig dargestellt hat. (Die Betonung des Körpers als Gegenstand der Machttechniken ist nur dort nachvollziehbar wo die Reaktionen so eingeschliffen werden, daß sie schließlich unbewußt erfolgen. Immerhin wird dadurch erreicht, daß der Befehl den normschädlichen Willen des zu Lenkenden gewissermaßen umgehen kann.)
Bei Foucault liegt besonderes Gewicht auf der restriktiven Seite der Disziplinierung, die die Kanalisierung und Kontrolle der Individuen betrifft. Es geht um die Abtötung von Initiative und Variabilität, es geht um das, was sie nicht tun und können sollen. Die andere Seite ist das, was sie tun und können und wovon sie nicht abweichen sollen. Findet das Gesollte auf niedriger Hierarchiestufe statt, so hat es einen apparativen Charakter, d.h. es muß mit großer Exaktheit und Geschwindigkeit, einem hohen Grad an Übung ausgeführt werden, bedarf aber geringer, nach Möglichkeit überhaupt keiner Intuition. Damit fällt es unter “Disziplinierung”.
Auf höherer Stufe, z.B. der des “freien Mitarbeiters” sind Initiative und Variabilität durchaus gefordert, aber es gilt ein viel größerer Katalog an Regeln und Bedingungen. Will sagen, die innere Kanalisierung des “freien” Mitarbeiters, die die Geschäftsführung, die Einhaltung von unausgesprochenen Regeln, das Beachten von zahllosen Fehlermöglichkeiten und Verboten anbetrifft, ist weit größer als die des Angestellten oder gar des antiken Sklaven.
Daß die körpernahe Disziplinierung heute durch die Disziplin der Geschäfts- und Lebensführung ersetzt wurde und sich innerhalb eines komplexen Weltbildes abspielt, wird dokumentiert durch den Begriff der „Wissensgesellschaft“. Im Lauf der Menschheitsgeschichte sind die äußeren Beschränkungen schrittweise gefallen zugunsten der Einsicht in die Notwendigkeiten. Von der Sklavenkette über die Landbindung des Kolonen, den freien Fabrikarbeiter zum Angestellten und schließlich zum Scheinselbständigen fallen die unmittelbaren Zwänge und werden durch das Wissen um die ökonomischen Kanalisierungen ersetzt.
4.4.5 Demokratie und Kanalisierung, Beamtenschaft
Was kann überhaupt demokratisch erreicht oder veranlaßt werden? Im Wesentlichen doch allenfalls eine sehr generelle Entscheidung zwischen ganz wenigen Alternativen. Eine Entscheidung, keine Anweisung! Wollte die Mehrheit oder nur eine Vielheit eine Anweisung erteilen, so bräuchte diese natürlich wieder einen Dirigenten, der zumindest die Gleichzeitigkeit ihrer Vermittlung herstellte. Andernfalls wäre die Information ein undeutbares Stimmengewirr. Die Durchführung, das Erzielen von Ergebnissen kann nicht anders als hierarchisch erfolgen. (Natürlich ist es möglich, zur Vermeidung von Privilegienbildungen wechselnde Funktionshierarchien einzurichten - das hat aber nichts mit mehr oder weniger Hierarchie zu tun, sondern mit Tradierung; oben wird tätig der Status gefestigt, unten die Gewöhnung - die Steuerung bleibt wie eh und je.) Letzen Endes muß nach der gefällten Entscheidung die Demokratie ein wenig zurückgestellt werden, so etwa für vier bis fünf Jahre.
Wegen der zahllosen Interdependenzen, der geschriebenen (“Gesetzesdschungel”) und sachlichen Abhängigkeiten wird demokratische Lenkung immer mehr zur Illusion. Aber noch viel strikter, noch hierarchiefördernder wirkt die Tatsache, daß eine Information, die sich in eine Aktion Vieler verwandeln soll, eindeutig, gleichzeitig und einfach sein muß. Diese “Aufwärtsvereinfachung” liegt in der Hand der Politiker, die eine vielleicht bittere Notwendigkeit entscheidbar und emotional bekömmlich aufbereiten müssen.
Abwärts muß die Entscheidung dann wieder aufgefächert, fachlich angereichert und umsetzbar gemacht werden. Damit ist der Beamtenapparat unumgänglich geworden, der nun aber sein bekanntes Eigenleben beginnt.
Wenn also die Steuerungsmechanismen in Demokratie und Diktatur keine wesentlichen Unterscheidungsmerkmale haben, was bleibt dann, um die Unterschiede zwischen den beiden Herrschaftsformen zu begründen? Der Demokrat bekommt die einzuhaltende Norm u.a. über Wahlen mitgeteilt, der Despot muß sie erraten oder geheimdienstlich erforschen. Der Demokrat hat die öffentlichkeitswirksame Kontrolle, nun, und ein wenig Gemecker zu ertragen. Auch sind seine Lenkungsmittel nicht so wirksam, was dem Despoten einerseits einen größeren Spielraum, aber andererseits eine riskantere zeitlich verkürzte Herrschaft gewährt. Schließlich kann der demokratisch installierte Führer sagen: Ihr habts ja so gewollt!
4.4.6 Die Basisdemokratie oder der Chor,
der den Dirigenten lenkt
Der Ökonomiegesichtspunkt der Hierarchie wird verdeutlicht, wenn man sich jenen Chor denkt, der durch gemeinsames Zeichengeben einen Dirigenten zum Singen veranlassen will. Unwillkürlich sucht man für diesen Dirigier-Chor wieder einen Ober-Dirigenten, der dem Chor die Zeichen gibt, damit er diese gleichzeitig und gleichförmig weitergeben kann. Andernfalls würde der hier zu steuernde Sub-Dirigent durcheinander kommen, weil ihm ein von den Mitgliedern des Chores individuell und ungeordnet produziertes Zeichenchaos geboten wird. Neben dem Problem der Gleichzeitigkeit erscheint in diesem Gleichnis ein zweites Zeitproblem: das der Abstimmungsdauer. Müßte sich nämlich der Chor jedesmal über die Form der Zeichengebung, über den Beginn der Proben oder den nächsten Konzerttermin vereinbaren, dann käme seine Arbeit wegen Zeitüberschreitung zum Erliegen. Giddings vielzitiertes “the few always dominate” findet seine Bestätigung, jedoch nicht als aristokratische Intention, sondern als Richtungsangabe für den Fluß von der Information zur Aktion.
Ein drittes Problem, das sich hier zeigt, ist unabhängig von der Hierarchie: die Tradierung. Sie stabilisiert den Bereich durch Regelhaftigkeit, gefährdet ihn aber bei Veränderungen des Umfeldes durch Erstarrung. Eine unausgesprochene uralte Regel zB über den Zeitpunkt des Probenbeginns oder der Aufführungsbekleidung erspart eine ständige Diskussion derselben. Sie könnte ein “gewachsener” Bestandteil der Norm genannt werden, der einmal in ihrem Sinne, im Lauf der Zeit aber gegen sie wirkt.
Lange Zeit hatte sich die Disziplin in unserem Kulturkreis selbst belohnt und sei es nur durch eine gewisse Sicherheit und Berechenbarkeit für diejenigen, die sich ihr unterwarfen. Im Zuge der Globalisierung aber, wo ganze Unternehmen aufgekauft, verschoben und entmaterialisiert werden, ist die Disziplinierung zwar von oben gefragter denn je, wird jedoch nur mit steigender Verunsicherung ihrer Träger belohnt. Flexibel sein heißt ja weiterhin strikte Disziplin, jedoch immer in neuem Gewand; heißt Biß haben, Zupacken, Hingabe... aber an ständig wechselnde Idole, Firmen, Grundsätze. Das sog. Berufsethos ist daher fast vollständig verschwunden. Dazu kommt, daß die Stellung des Einzelnen keine Lebensstellung mehr ist und langfristig von ganz anderen Zufällen als von seiner Leistung abhängt.
4.5 Die Norm
4.5.0 Begriff
Im Sinne des Alltagsverständnisses wurde „Norm“ schon mehrfach verwandt. Als konstituierender Bestandteil der Hierarchie sollen im Folgenden aber noch einige weitere Facetten des Begriffes herausgestellt werden.
Im Lexikon Technik und exakte Naturwissenschaften, Fischer Taschenbücher 1972, wird Norm nur als mathematischer Begriff definiert. Den umfassenden Geltungsbereich und die vielfältigen Passungen mit der Welt von "Norm" kann man aber aus dem entnehmen, was unter "Normung" (S. 2067) steht: "...Festlegung einer Ordnung in der sonst regellosen und unübersichtlichen Vielfalt..... die einmalige Lösung einer sich wiederholenden Aufgabe .... ...Typenbeschränkung". Nichts anderes als Typenbeschränkung geschah schon in der Genesis beim oben (2.1) besprochenen Zerfall der meisten (zB vom Protonenmaß) abweichenden Elementarteilchen. Die unzähligen Individuen der relativ wenigen verbliebenen Teilchenarten sind deutlich gegen andere abgesetzt - ganz wie die biologischen Arten, deren Mitglieder untereinander immer mehr Ähnlichkeit aufweisen als zu denen der nächstgelegenen Art.
Normbildung ist also die Festlegung einer Vielheit von Objekten auf eine oder wenige von vielen möglichen Formen. M.a.W. aus einer beliebigen Mannigfaltigkeit werden Individuen gebildet, die bestimmte Eigenschaften erhalten / erwerben und an Hand dieser Eigenschaften in Gruppen eingeteilt werden können. Die Normung begann mit der Digitalisierung der Welt beim Zerfall, der Kondensation des Kontinuums nach dem Urknall. Sie bewirkt die Wiederkehr des Gleichen, des Typus durch Vereinheitlichung. Sie bringt Minderung der Kontingenz durch Selektion. Sie ist soziologisch die Fixierung von Meinungen auf einen Punkt, die Ausrichtung zahlloser Strebungen auf ein Ziel, die Reinheit des Glaubens und die Ausrottung der Abweichler und Ungläubigen.
Die zeitliche Seite der Norm sind Periodizität und Kausalität, d.h. die Wiederkehr von Zuständen und Bewegungen sowie die ähnliche Aufeinanderfolge derselben.
4.5.1 Normteile (s. auch Riedl, “Strategie der Genesis”, zBS.258)
Nimmt man jetzt den hierarchischen Aufbau verschiedener Bereiche, (zB die chinesischen Schachteln von Simon [wieder “Hierarchy Theorie”]), so findet man, daß die Sterne einer Weltinsel, die Sandkörner einer Düne, die Vertreter eines Glaubens oder die Atome eines Moleküls sich nicht so gleichen müssen, wie ein Proton dem anderen, aber doch so, daß man sie durchaus als konstituierende "Normteile" ihres Bereichs bezeichnen kann. Es muß ihre Differenz zu den “Anderen”, zur nächstverwandten Art, bzw. zum Umfeld größer sein als untereinander. Immerhin haben wir eine ziemlich feste Vorstellung von dem, was ein Sandkorn, ein Stern, sogar, von dem, was ein Dackel, ein Christ oder ein Schornsteinfeger ist. Wir können sie von allen unterscheiden, die “das” nicht sind und wir haben für ihre Ansammlungen, für die Bereiche die sie bilden, Worte und Begriffe, die ihre Sozietät deutlich von den Anderen bzw. vom Umfeld absetzen. Familien, Gemeinden, Nationen... bestehen aus Individuen, deren jeweils interessierende Merkmale sich ähneln oder gleichen.
Normteile in der Biologie schließen sich zu immer größeren Bereichen zusammen und bilden aufsteigend, wie bereits erwähnt, Nukleotide, Eiweiße, die DNS, Zellen, Organe, Individuen, Schwärme, Rudel, Horden, Stämme, Religionen, Nationen usw. ([Nicolis “Dynamics of Hierarchical Systems, Springer 1986], S. 209) Die aus Normteilen gebildeten Bereiche können wieder Normteile übergeordneter Bereiche sein, so wie z.B. die Nationen sich als Teile der Menschheit erweisen und die Menschheit ein Unterbereich alles Lebendigen ist. Die Normteile geben im Zuge ihrer Zusammenschlüsse Selbständigkeit und Freiheit ab und gewinnen dafür Gemeinsamkeit. Gemeinsamkeit stärkt die Macht ihrer Bewegung, aber nur in der Richtung, die alle einschlagen.
4.5.2 Die Norm, soziologisch
Die gängigen Definition der Norm in der Soziologie folgen dem Prozeß der Angleichung der Individuen untereinander: (Wörterbuch der Soziologie, Enke, 1989 unter 2, Seite 468) "Norm als Verhaltensgleichförmigkeit... benennt eigentlich nur den allgemeinen Gegenstand der Soziologie, nämlich Regelmäßigkeiten sozialen Verhaltens." Auch die Definitionen 1) als "durchschnittliches Merkmal einer Population" und 3) als (gemeinsame) "Zielvorstellung" gehen in die Richtung der Wiederkehr des Gleichen - sowohl zeitlich (Periodizität) als auch räumlich (Gleichförmigkeit).
Noch deutlicher als in der Biologie zeigt sich in der Gesellschaft neben der statischen Ähnlichkeit die Norm als gleiche Reaktion auf gleiche Reize. In komplexeren Bereichen, z.B. denen eines Unternehmens, ist natürlich nicht mehr die gleiche Reaktion gefragt, sondern eine höhere Abstraktionsstufe, die gleiche Zielsetzung. Die Tätigkeit eines Lohnbuchhalters ist nicht mit der eines Werkmeisters zu vergleichen, aber die Zielsetzung im Sinne des Bereichserhalts ist dieselbe. Die Norm einer Firma ist in den Individuen implementiert zB als eine corporate identity; sie findet bei den passenden Anregungen von außen Resonanz und löst dadurch die geübten Bewegungen aus, die alle verschieden sind, aber dem gleichen Ziel dienen. In dieser erweiterten Form - über die “Gleichförmigkeit des Verhaltens” hinaus - kann die Norm der Steuerung dienen.
Die Normaneignung (gleicher Text, "Wörterbuch...“, Enke, gleiche Seite 468) ist daher die Voraussetzung für die Bildung hierarchischer Ordnungen d.h. für gemeinsame Bewegungen. Eine Norm höherer Ordnung, die nicht die gleichen Reaktionen, sondern gemeinsame Ziele impliziert, führt nicht zu gemeinsamen Bewegungen, sondern zu gemeinsam erstellten Produkten (wie Autoreifen oder Schauspielen). Jede Norm entsteht in einem langwierigen, teils unbewußten Prozeß durch Konditionierung von Körper und Geist im Elternhaus, in der Schule, auf dem Schulweg, im Werbeblock, auf dem Exerzierplatz, im Trainingslager... genauestens untersucht und vielfach durchgearbeitet, jedoch meist uneingedenk der Wechselwirkungen mit der Struktur.
So wird beispielsweise in der “Dialektik der Aufklärung” die Rolle des Odysseus aus den seelischen Verwerfungen frühkapitalistischer Warenjongleure entwickelt, ohne auf die Lenkungsprobleme einer verirrten Schiffsbesatzung einzugehen. Natürlich erfordern jene Probleme eine Art von Unmenschlichkeit, schon weil bei der Ausfahrt keine Rücksicht auf Bleibende genommen werden kann. Die Tragödie der Abweichler ist davon aber unabhängig und stellt generell das Problem von Gruppen bei gemeinsamen Unternehmungen dar.
Erst wenn die Filter oder Vorstellungen gem. Kap. 3.3 durch Erziehung, Lehre, Übung, Propaganda in allen Individuen eines Bereichs implementiert sind, heißen sie Norm. Erst dann kann der Bereich im Sinne der Hierarchie gelenkt werden; erst wenn die Norm als gleichartige Reiz-Reaktionsketten oder Zielvorstellung in einer Vielzahl von Individuen eingeübt wurde, kann ein Initial-Ereignis gesellschaftliche Kräfte freisetzen. Spontane und völlig gemeinschaftliche (fast hierarchiefreie) Selbstlenkung eines Bereichs erfordert eine noch stärkere Norm, da sie (sofern überhaupt möglich) ohne Takt- und Richtungsgeber stattfinden muß. Sie ereignet sich gelegentlich unter höchstem Druck, wenn das lokale Initial-Ereignis als Welle durch die Masse selbst weitergetragen wird und in einer Explosion kulminiert.
4.5.2.1 Entstehung der Norm, soziologisch
Die ursprünglichste Form der Norm, nämlich die relative Gleichheit der Individuen einer Art, hat das Individuum im Zuge der Artenbildung und kulturell durch Erziehung mitbekommen. Dem gegenüber steht ein Bedürfnis nach Individualität, das zunehmende Unterschiede zwischen ihnen ausbildet.
Der “Wind des Wandels”, die Veränderung des Umfeldes, vor allem die Verdichtung und mit ihr die Notwendigkeit etwas zu bewegen, verlangt gemeinsame Aktion, verlangt die Angleichung und Gleichrichtung der Individuen (weil unabgestimmte Bewegungen sich meist gegenseitig aufheben, siehe den Dirigier-Chor), führt aber so ohne Weiteres nicht zur Etablierung einer Norm.
Es sieht aus, als müßte die Gesellschaft zuvor ein Chaos durchschreiten. Nach den ersten ungeregelten Bewegungen, Stößen und Verletzungen dämmert den Betroffenen bzw. allen Beteiligten die Vergeblichkeit individuellen Tuns. Die Folge ist eine nicht zu überschätzende Eskalation von Stress aus dem Bewußtsein der Machtlosigkeit. Sie steigert sich bis zu dem Punkt, wo die hilflose Aktion der Vereinzelten (“jetzt muß etwas geschehen, egal was”) in den Zusammenschluß von Gruppen mündet.
In einer Art Kondensationsprozeß entstehen nach dem Muster der Synergiebildung wachsende Unterbereiche. Die Größeren und Aggressiveren nehmen die Umgebenden auf und zwingen sie in ihre Ausrichtung. Das Individuum fühlt / versteht, daß gemeinsam etwas bewegt werden kann. Es hat die Wahl zwischen Isolierung und bedingungsloser Einordnung. Es wählt i.d.R. nicht die Isolierung, sondern verleiht der Seite mit der größten Dynamik den größten emotionalen Schub. Dazu wird das Weltbild mit der größten Stabilität und Einfachheit gebraucht. Die Richtung, die inhaltliche Zustimmung, die Stimmigkeit oder irgendwelche Rücksicht wird bei weiterer Verdichtung immer unwesentlicher; die Gemeinsamkeit und das Entkommen aus der Gegenwart sind schließlich entscheidend.
Gleichzeitig wächst die Abwehr des Anderen, des Fremden und damit logisch und emotional verbunden, wieder die Schutzsuche unter Gleichen.
Und diese Schutzsuche ist alles andere als wählerisch; auch für Individualisten, denen das Entkommen mißlingt, erweist sie sich als einziger Ausweg. Man braucht nur irgendein Wesen oder sich selbst in Gefahr zu beobachten, um zu sehen, daß jede Farbe angenommen wird, wenn sie Beistand oder wenigstens ein Verschwinden in der Menge verspricht. Man kann zwar nicht unsichtbar werden, aber ununterscheidbar. Neben allen anderen Annehmlichkeiten des Aufenthalts unter Gleichen, wie denen der Verständigung, der Minderung von Unerwartetem, der Nähe und des Kennens ist damit die vorzeigbare Übernahme einer Norm, “...gut Freund hier”, eine Notwendigkeit des Selbsterhalts. Zugleich damit verschwinden Zweifel, Einwände, Fragen und Unsicherheit. Das Gleiche gilt mit umgekehrten Vorzeichen für den Feind. Die ganzen Emotionen einer schwierigen Lebenssituation werden gebündelt und als Haß auf ihn konzentriert. Ja, zugunsten des Freund-Feind-Schemas kommt es empirisch zu einer Konturierung und Verschärfung, die die ursprüngliche Lehre nicht hergibt.
Was also unter friedlichen Umständen einfach ein gleichgültiges Gruppenmerkmal ist, gewinnt unter Druck scharfe Konturen und wird gewissermaßen zur Uniform des Bereichs. Die Angleichung und das Ausgrenzen der Abweichung werden zur Überlebensfrage; das Einordnen ist dann die letzte Chance der Beweglichkeit, der Veränderung. Dämmert die logische Notwendigkeit gemeinsamer Bewegung durch Aus- und Gleichrichtung, ist auch die hierarchische Steuerbarkeit gewährleistet. So kann sich aus Nichts, aus einem kaum wahrnehmbaren Kristallisationskern eine Norm bilden und eine Veränderung, eine Revolution aufrichten.
4.5.2.2 Extremismus
Unter allen Schattierungen der Norm ist bei steigendem Druck immer die extremste bevorzugt. Extrem ist diejenige, die am unmittelbarsten zur Aktion kommt, d.h. den kürzesten Weg von der Anweisung zur Tat, von der Information zur Aktion findet. Ihre Träger haben das einfachste Weltbild und sind, wo immer es um die Priorität geht, die Angreifer. Die weniger Extremen, die Lauen und Bedenklichen sind immer die Verteidiger. Und da in der revolutionären Situation die Dynamik entscheidet, gewinnt (zunächst) auch der Extremismus.
Man könnte vermuten, daß die Stabilisierung des Weltbildes auf seine anfängliche Einfachheit zurückgeht. Zweifellos ist es unter Analphabeten am leichtesten zu instrumentalisieren. Aber die radikalsten Extremisten sind aus westlich gebildeten Akademikern rekrutiert worden. Wenn jemand zum Surenpauker wird, der die Weltgeschichte der Philosophie studiert hat, dann kann dies nicht auf seine ursprüngliche Einfachheit zurückgeführt werden. Das Gleiche gilt für die Propagandisten des Führerprinzips im westlichen Kulturkreis. Nein, bei der Radikalisierung hat jemand den Ballast, das Wenn und Aber seines Weltbildes abgeworfen, und zwar den Ballast, der ihm die befreiende Tat verwehrte.
4.5.2.3 „Gemeinschaft an sich“
Unterstützt wird der Normungsprozeß durch ein Grundbedürfnis des Menschen, die Zugehörigkeit. Ionesco hat in seinen “Nashörnern” dieses Gleichwerden, das Entstehen von “Gemeinsamkeit an sich” herausgearbeitet. Ohne einen äußeren Zwang oder ein bestimmtes Interesse, ohne jede Vorteilsgewinnung, ja ohne logische Begründung, nur durch das selbstverständliche Sosein und Einswerden der Gewandelten und die Hinnahme der Wandlung, werden allmählich alle zu Nashörnern. Da spielen eine Rolle die Fragen des geheimen Einverständnisses, der Ähnlichkeit, der Sicherheit unter Gleichen und der Berechenbarkeit. Worte werden überflüssig. Gerade die Nichtbegründung ist bei diesem Prozeß ein Moment zusätzlicher Attraktion, weil sie Selbstverständlichkeit suggeriert. Alles fließt aber zusammen und gewinnt Kontur dadurch, daß Gemeinsamkeit sich absetzt gegen das Außen. Der Normungsprozeß stellt die Differenz her gegen das Andere und schärft die Kontur des Bereichs. Unversehens gewinnt man Zugehörigkeit, entkommt man der Fremd- und Unsicherheit.
Die scheinbar so diffuse Strebung nach Zugehörigkeit und Abgrenzung zugleich erweist sich als ein starker Grenz- und damit Ordnungsbildner. Eine irrationale, mehr zufällige, kaum in Worte faßbare Emotion bringt so unter Druck allmählich die schärfsten Konturen hervor.
4.5.2.4 Normung durch Nähe
Das Gleiche gilt für die Normung durch Nähe. In einer dichten Menge mit Körperkontakt kann man sich nur bewegen, wenn alle sich in dieselbe Richtung bewegen. Dieses Bild gibt auch eine Analogie für die Notwendigkeit der geistigen Gleichrichtung, wobei in der Bedrängnis nur der kleinste Nenner (s. 5.4) gilt. Jedenfalls ist es in beiden Fällen schwer, wenn nicht tödlich, sich allein gegen die einmal eingeschlagene Richtung zu stellen. Dies stellt zunächst eine rein mechanische Kanalisierung dar. Sie geht bei mehrfacher Anwendung auf menschliche Sozietäten dann über verbale Fassung und Rechtfertigung in die geistigen Formen der Gemeinsamkeit, also ähnliche Weltbilder / gemeinsames Denken über. Diese Formen der Gleichrichtung wiederum ermöglichen nach Hierarchisierung die gesellschaftliche Aktion in Form der gemeinsamen Bewegung. M.a.W. schon der rein physische Zwang, sich nur gemeinsam bewegen zu können, schlägt sich mit der Zeit als eine geübte Notwendigkeit im Weltbild nieder und ermöglicht die Steuerung einer Vielheit.
Die Zwänge zur Gemeinsamkeit durch Nähe sind so stark, daß sie die Normung des Individuums ohne, ja gegen seine Zustimmung durchsetzen. Hier wirkt die Dichte ohne Umweg über die Einstellung direkt auf die Gesellschaft und ihre Bewegungsweise. Hier geht die physische Ausrichtung der geistigen voran. Unter den Bedingungen der Verdichtung ist Individualität - sonst eine notwendige Bestätigung des Eigenlebens - ein Angriffspunkt der ausgeschieden oder liquidiert wird.
4.5.2.5 Die unterschiedliche Normeignung
von Haß und Liebe
Wenn sich im himmlischen Staate Augustins die Vorgesetzten und die Untergebenen „in gegenseitiger Liebe“ dienen, dann ist dies offenbar ein sehr utopischer Zustand, der kaum die erste Krise überstehen dürfte. Erfahrungsgemäß verblaßt die Liebe, hier: die allgemeine Menschenliebe, schnell unter den Notwendigkeiten des Teilens, der Arbeitsteilung, der Zuweisungen, der Forderungen, also der Organisation schlechthin. Soll die Liebe gesellschaftlich wirken, verlangt sie Gegenliebe. Außerdem muß jedes Individuum seine Stellung innerhalb der Gesellschaft gemäß den Notwendigkeiten des Zusammenlebens, der Produktion, der Verwaltung lieben oder wenigstens akzeptieren.
Aber nehmen wir mit den Verfechtern des Ideals einmal an, die Liebe wäre von Dauer und Verbreitung. Dann stehen wir vor der entscheidenden Frage, ob die Liebe überhaupt die organisatorische Kraft hat, die zur Verteidigung oder nur zum Erhalt von Sozietäten nötig ist. Sobald es um mehr als zwei Individuen geht, ist ja nicht das Maß an Liebe, sondern die Richtigkeit von Entscheidungen gefragt. Und die Richtigkeit ist nicht ein Ausfluß der Liebe, sondern der kalten Berechnung. Die Liebe macht gleich, aber die Sozietät verlangt (z.B. allein im Hinblick auf die Arbeitsteilung) eine von der Liebe unabhängige Entscheidung - gleich ob alle sich, erfüllt von ihr zum Opfer drängen oder ob sie, von ihr verlassen, sich verweigern. Das bestätigt sogar Augustin, indem er ohne weiteres voraussetzt, was abseits der Liebe nötig ist: die Installation des Vorgesetzten, sprich der Hierarchie.
Der Haß (als solcher) dagegen differenziert per se. Er unterteilt, indem er wertet und bildet damit Schichten, denen die Funktion nur noch zugewiesen werden muß. Als reine Emotion bringt er die Disposition (des Ein-Teilens) für den wichtigsten Ordnungsbildner mit sich. Vor allem stehen seiner Verbreitung nicht so viele Umstände entgegen wie derjenigen der Liebe.
4.5.2.7 Die Zeit als einziger Beweger
Was passiert eigentlich, wenn sich nichts an den materiellen Bedingungen ändert, wenn sozusagen nur die Zeit vergeht und auch Ressourcenschwund und Nischenverderb sich noch nicht bemerkbar gemacht haben? Nun, die Psyche reagiert; das Mindeste was einzieht ist die Langeweile, ein allmählich wachsender Druck, der von innen in Richtung auf eine Tat und Veränderung hinwirkt. Der Zauberberg macht es anschaulich und noch viel früher Schiller: “Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von schönen Tagen.”
4.5.2.4.1 Der Überdruß
Im zeitlichen Verlauf verlangt die menschliche Psyche einen Wechsel von Tätigkeit und Ruhe, Ordnung und Freiheit, von Gleichmaß und Veränderung. Einstellung, Strebung, Anmutung, kurz die Psyche beginnt sich zu verändern, gerade wenn scheinbar nichts geschieht. Auf dem Zauberberg ist nicht die Rede vom Druck der Armut, im Gegenteil, der Kampf um die Ressourcen ist ausgespart; trotzdem generiert das Gleichmaß der Tage im Lauf der Zeit einen solchen Widerwillen, einen solchen Drang nach Veränderung, daß es in einer regelrechten Explosion verschwindet.
Die Norm des laufenden Betriebes scheint in ihrer Vielfalt zunächst erträglich, wird aber mit der Zeit unbehaglich, sie verlangt ständig die gleichen Einschränkungen und Rücksichten; sie wird irgendwann in einer Explosion abgeworfen, wenn die Abstumpfung nicht rechtzeitig greift. Es geschieht etwas, aber es passiert nichts. Jede Veränderung wird periodisch zurückgenommen - täglich. Jeden Morgen ist die Welt wie gestern. Schlechte Tage sind schwer zu ertragen, aber eine Reihe von schönen Tagen... - oder 1968: die Unerträglichkeit der Überversorgung.
4.5.2.6.2 Ressourcenschwund und -kontaminierung
Neben den psychischen gibt es materielle Veränderungen, die auch in völlig statischen Gesellschaften unaufhaltsam stattfinden. Da ist erstens der Ressourcenstrom, die Ver- und Entsorgung, die einfach das Überleben der Individuen zu sichern hat. Die Wahrnehmung des gleichmäßigen Fließens oder einer strikten Periodizität, der “ewigen Wiederkehr” suggeriert ein Gleichmaß, ein Unveränderliches, das aber Quellen und Senken nicht mitmachen. 3000 Jahre lang war am Nil davon nichts zu merken. Jetzt, wo in Kairo soviele Menschen leben wie einst in der ganzen DDR, sterben die Fische im Meer und husten und kränkeln die Menschen an Land. Jetzt beginnt die Wahrnehmung des Schwundes, wenn auch vielfach unbewußt. Nicht umsonst fokussiert sich der Glaube mit wachsender Aggressivität auf den kleinsten, einen wahrhaft mikroskopischen Nenner. Seine Herkunft aus der Verdichtung liegt nahe - nirgends wird so wahllos gemordet wie in den (Ressourcen-) Wüsten des Islam; nirgends finden wir eine derartige Diskrepanz zwischen Organisationsgrad und Dichte.
4.5.2.6.3 Organisationsgrad
So ist es z.B. denkbar, daß die Versorgung der wachsenden Großstädte in den mittelamerikanischen Hochkulturen nur durch einen psychisch unerträglichen und technisch nicht aufrecht zu erhaltenden Organisationsgrad zu bewerkstelligen war. Ihr rätselhaftes Verschwinden kann, ganz wie hierzulande der von allen natürlichen Ursachen unabhängige Ausbruch einer Inflation auf rein organisatorische Veränderungen zurückgeführt werden. Sehr allmählich, großenteils unterbewußt werden die Zügel angezogen, die Genauigkeit gesteigert, die Sanktionen verschärft, die Luft genommen. Allein die Transportmittel und -wege, die naturgemäß immer aufwendiger wurden, die Zeitraster und Interdependenzen, bedurften schließlich derart minutiöser Planung, daß eine geringe Störung sie aus dem Takt brachte. Ein Augenblick der Unaufmerksamkeit, ein klemmendes Signal, eine Falschmeldung pflanzt sich fort in alle Maschen des Netzes. Auch die innere Anspannung wächst, bis die Zwänge sich derart kumulieren, daß die Taktverschiebungen plötzlich mehrere der ehernen Gehäuse sprengen und den Betrieb stillegen.
4.5.2.6.4 Hierarchiebildende Kräfte oder Hierarchisierung
Empirisch ist zweitens (wie in 6.0 weiter ausgeführt) zu konstatieren, daß sich in allen Gesellschaften mit der Zeit eine Hierarchisierung, d.h. eine Privilegierung oben und eine Entprivilegierung unten durchsetzt. M.a.W. findet eine Konzentrierung der Steuervollmachten statt. Auch diese (wegen des steigenden Kontrollaufwandes für die Verteilung und vor allem Ungleichverteilung der Ressourcen) auch Überorganisation genannte Erscheinung kann ohne irgendwelche Änderungen in der Ressourcenverfügbarkeit zu Zusammenbrüchen führen.
Es gab vorrevolutionäre Perioden, in denen die Not nur am Überfluß der anderen zu messen war; absolut hätte sie auch als Wohlstand gelten können. Die Brisanz der Hierarchiekonturierung und Überkonturierung liegt in der sich vergrößernden gefühlten Differenz. Sie läßt die Wut als Norm kristallisieren, ordnet ihre Träger und setzt sie in Bewegung.
4.5.2.6.5 Die Alterung der Norm
Verschwindet der Druck, melden sich wieder die Neuerer und die Logiker, die Warner und die Außenseiter und das System öffnet sich, gewinnt an Vielfalt und verliert an Striktheit - könnte man folgern. Indessen stellt man empirisch auch eine allmähliche Aufweichung der Norm fest, ohne daß der äußere Druck oder andere Bedingungen sich geändert hätten. Die Gewißheiten schwinden einfach mit der Zeit und sei es nur, weil sie zu oft beschworen wurden. Noch mehr aber wird bei einer allgemeinen Entspannung nach dem Nutzen der Formalitäten gefragt, und dann, mit dem Erkenntnisfortschritt nach dem Wahrheitsgehalt. Als nächstes nach Begründung und Grund und schließlich nach dem Sinn der Norm überhaupt. Durchs Hinterfragen ist die Norm natürlich gestorben; mit ihr die Seele des Bereichs und der Wille, ihn „als solchen“ zu verteidigen.
Ein Beispiel wäre der stark normbildende Begriff “Vaterland”. Sicher war es nicht nur die Zeit, die ihn im letzten Jahrhundert verblassen ließ; ein stark gestiegener Organisationsgrad ermöglichte übernationale Zusammenschlüsse. Aber im Alten Reich beispielsweise vollzog sich ein ungestörter “innerer Zerfall”. Viele Historiker sehen einen Alterungsprozeß der Kulturen, wo besagte Alterung / Schwächung der Norm mit einer Vervielfältigung künstlerischer Produktionen und Lebensformen einhergeht.
Verständlich ist eine Alterung der Norm, obwohl die beharrenden Kräfte ihr (der Alterung) entgegenstehen. Es ist ja nicht nur zunehmende Erkenntnis, unvermeidliche Wissensvermehrung die die Norm unterhöhlt; dem Beharrenden auf den oberen Hierarchiestufen arbeitet, wie oben ausgeführt, ein Wunsch nach Veränderung, nach Bewegung entgegen, der als ein nachvollziehbarer Trieb immer vorhanden, aber von unten auch materiell begründbar ist. Wie anders als durch Veränderung sollten die Hierarchiestufen gewechselt werden können? Wie anders sollte ein nachlassender Ressourcenstrom (durch Neuerschließung, Innovation etc.) aufgefrischt werden können?
Am Ende werden die Normhüter selber unsicher. Sie spüren, daß sie einen Zustand verteidigen, der bloß durch Stillhalten zu retten ist. Stillhalten oder Bewahren ist aber gerade das, was den Neuerern keine Besserung verspricht. Es hat auch keinerlei Dynamik, die bei jeglicher Auseinandersetzung von höchster psychologischer Bedeutung ist. Ihre Bedeutung ist mit einer topologischen Analogie erklärbar: der Verteidiger muß seine Aufmerksamkeit auf die gesamte Bereichsgrenze richten, der Angreifer nur auf die Stelle, die er durchbrechen will. Nach seinen Erfolgen gefragt, kann der Verteidiger höchstens sagen, es ist wie es war; der Angreifer kann auf die Bresche zeigen und rufen, das ist mein Werk! Dies ist ein stark förderndes psychologisch-strukturelles (auf die Struktur wirkendes) Moment, das die Veränderung auf seiner Seite hat und sogar dem individuellen Terror Attraktivität und Wirksamkeit verleiht.
4.5.3 Außen und Innen
Die Norm des Außen oder der Umwelt ist einfach anders. Welches Moment im einzelnen das Andere ausmacht ist nicht so wichtig. Der Feind, das Umfeld, die Fremde hat generell eine Differenz zum Eigenen; sogar das Ähnliche und das Gleiche sind im Anderen anders. Unter den Bedingungen der Verdichtung wird das Ähnliche geradezu pathologisch; wie im Wechselfieber nimmt es Feind- und Freund-Gestalt an. Wo im Unglück der Feind nicht auszumachen ist, setzt eine minutiöse, skurrile und gleichwohl tödliche Suche nach Abweichungen ein. Nach innen werden auf diese Weise mikroskopische Differenzen zum Verdachtsfall. Nach außen wird - auch wenn es keine andere Unterscheidungsmöglichkeit gibt - das Außerhalbsein zum Unterscheidungsmerkmal. “Außerhalb” gilt dabei nicht nur für Landes-, Rassen- oder Sprachgrenzen, sondern natürlich auch für Hierarchiestufen.
4.5.3.1 Abweichung, Häresie, Devianz
Toleranz ist eine Schönwetterblume. Sobald Ressourcenfragen sich melden oder im Zuge der Bereichsbildung werden die Abweichungen (innen oder außen) zum Kriegsgrund. Toleriert man sie, ist weiteren Störungen Tor und Tür geöffnet. Von Innen wird eine Störung des Weltbildes als ebenso destruktiv empfunden wie eine des Bereichs. Es ist genauso verwerflich, die Frauen aus der Burka zu entlassen, wie die Handelswege abzuschneiden. Von außen scheint dies unverständlich, hat aber einen rationalen Grund darin, daß das Weltbild die Verbindung zwischen Information und Aktion herstellt. Es ist das tägliche Brot des Politikers seine Ziele weltbildverträglich zu machen. Sie müssen dort dem Gott wohlgefällig sein oder hier dem Aufschwung dienen. Die Verwirklichung des Notwendigen (...des außen als notwendig empfundenen) ist unmöglich, wenn man die befestigten aber scheinbar irrationalen Wege dahin nicht benutzt.
Sowohl die Nivellierung des Innen, als auch die Ignorierung des Außen dienen der Stabilisierung des Weltbildes, einem Absolutwert, wie unter 3.5.5 besprochen - und damit der Stabilisierung des Bereichs.
Ebenso wichtig wie die Identifizierung und Denunzierung des Anderen im Innern wurde die Erhaltung der Differenz zum Außen. Vielfalt gefährdet die Einheit und Reinheit des Inneren. Schon ein eventuelles Interesse an den Einzelheiten draußen kann von den Eigenen als Zuwendung dorthin und Verrat ausgelegt werden. Das Fremde soll gehaßt aber nicht studiert werden. Ein Beispiel ist die Musik, die zunächst reglementiert, aber im Zuge der Radikalisierung gleich ganz verboten wird. Es ist nicht opportun, sich damit einzulassen und im Spannungsfall interessiert es auch nicht. Das Außen muß anders, die Vielfalt ausgeschlossen bleiben, ganz anders und auf jeden Fall feindlich, damit das Innen zusammenhält.
Die Forderung, das Innere bloß zu vereinfachen, trifft es nicht ganz. Es muß einfach sein, aber bezogen auf das Weltbild der Zugehörigen. Eine Ideologie / Religion / Gesetzessammlung kann für den Außenstehenden durchaus kompliziert und unverständlich sein, weil sie mit dessen Weltbild keine Deckung oder Resonanz findet. Wird sie von den Eingemeindeten verstanden, dann erfüllt sie durchaus ihre Aufgabe als Kommunikationsmittel und Verhaltenskodex innerhalb des Bereichs.
In Zeiten des Überflusses und guter Versorgung sind solche Betrachtungen irrelevant; erst mit einem Mangel und der Notwendigkeit ihn zu verwalten, werden sie virulent. Der Druck aus Verdichtung generiert so zwei gegenläufige Bewegungen, von denen aber die eine nach dem Muster von Kraft und Gegenkraft das Widerlager der anderen ist: erstens Aggression und Abwehr gegen den herandrängenden Anderen und zweitens Anlehnung, Anpassung und Schutzsuche bei den Eigenen. Bereiche, die zuvor nicht unterscheidbar waren, werden hierdurch mit wachsender Schärfe konturiert und von den Anderen, der Umgebung, geschieden.
4.5.3.2 Individualität und Verdichtung
Zu betonen bleibt wieder, daß diese Form der Bereichsbildung und -konturierung nicht von persönlichen Einstellungen abhängig ist, sondern vom Vorhandensein und der Anordnung von Bereichen. In einem ungestörten hierarchiefreien Stammesverband (zB als zwölfköpfige Gruppe im Urwald Indonesiens entdeckt) gibt es nur Individuen. Erst mit dem Auftauchen der Anderen erlebten sich diese Individuen als Gruppe. Erst jetzt konnten normgeeignete Einstellungen und Eigenschaften die Gruppenidentität herstellen. Dieser Ausgangszustand, der wegen seiner Seltenheit nicht Urzustand genannt werden darf, zeigt modellhaft, daß Grenzen sich durch Bereichs-Strukturen, Schichtung, örtliche Anordnung, Druck und Ressourcenverfügbarkeit bilden.
Wo bereits Eigenheiten wie Aggression und Abgrenzung vorliegen, die beispielsweise jede Kontaktaufnahme zwischen den Individuen der Bereiche unterbinden, könnte man die Ursachen im Individuum suchen. Man könnte das Anderssein für den Haß verantwortlich machen. Aber auch diese Ursache ist irgendwann in der Vergangenheit durch eine Strukturänderung wie z.B. die Verdichtung, gesetzt worden. In Zeiten ohne Not sehen wir die verschiedensten Sozietäten friedlich beieinander. Die notwendige Organisation der Ressourcenströme in der Not hat mit Zwang, Teilung, Kanalisierung und Disziplinierung das kriegerische Individuum hervorgebracht.
Ein durch solche Umgebungsbedingungen vorgeformtes Weltbild wirkt nun zurück auf die Struktur. Ein Teil der Einstellungen, Gefühle, Werte, Denkweisen trägt zur Bildung von Hierarchie, Lenkbarkeit, Bereichsgrenzen bei; ein anderer Teil wirkt ihnen entgegen und ein dritter ist trotz beträchtlicher individueller Stärke irrelevant für den Bereich und seinen Erhalt.
4.5.3.3 Das Formale
Wo aber die Individualität sich von Formalitäten freimacht, erweckt sie den Verdacht, auch die Forderungen der Norm zu mißachten. Sie tanzt aus der Reihe und entwertet die Ordnung. Sie entwertet die Haltung derer, die sich die Ordnung auferlegen, die sich “an die Vorschriften halten”. Auch wenn kein Moment des Ressourcenstromes betroffen und kein zielführender Nutzen erkennbar ist, mobilisiert die Übertretung von Formalitäten den Haß auf den Störer und zugleich den Neid auf die innere Freiheit des Übertreters. (“Wenn es denn der Wahrheitsfindung dient...”)
Obwohl Formalitäten nur das Weltbild und selten die Welt betreffen, verursacht ihre Übertretung die größten Emotionen, ja Verletzungen. Auf einem Umweg über die Betrachtung der psychischen Voraussetzungen von Gemeinsamkeit finden wir den rationalen Grund dafür. Einmal ist es die Überlieferung, die solche, zT aus Mythen geschöpfte, durch häufigen Gebrauch bestätigte Kommunikationsformen zur Verfügung stellt. Zum anderen haben diese Kommunikationsformen im Weltbild die Funktion eines Verbinders zwischen Information und Aktion, wodurch sie das Handeln bestimmen und ermöglichen. Wenn eben ab einer gewissen Tiefe der Fischgott den Taucher packt, dann braucht dieser nichts über Stickstoffdekompression zu wissen, um sich richtig zu verhalten. (Ein lohnender Rückblick auf die “Qualität der Begriffe”: der Fischgott erklärt Tauchtiefen und Fangergebnisse, die Gaslösung in Flüssigkeiten erklärt weit mehr: zahllose Erscheinungen vom Klima und bis zur Seltersflasche. Der Begriff hat einen größeren Geltungsbereich.)
Meist hat sich erwiesen, daß auch völlig irrationale Formalitäten auf Umwegen immer noch einen materiellen Nutzen zeitigen. Sogar kontraproduktive Formalitäten haben immer noch die erwähnte Funktion im Weltbild, die oft den materiellen Schaden kompensiert. Hier besteht eine Analogie zur bereits besprochenen “Ordnung an sich”, die auch unabhängig von ihren Zielsetzungen und Begründungen die Funktionalität von Bereichen fördert.
4.5.3.4 Größe der Bereiche
Vom Ressourcenstrom und vom Organisationsgrad, der ihn trägt, wird auch die Größe der Bereiche bestimmt. Beim Versiegen des Stromes zerfallen sie. Der Aufwand für die Organisation ist nicht mehr zu erbringen - die Organisation verschwindet. Die norm-relevanten Eigenheiten der Individuen bestimmen jetzt nur noch über die Trennungslinie oder den Zeitpunkt des Zerfalls. Eine starke Gemeinsamkeit, ein Wir-Gefühl hält den Bereich zwar länger zusammen, unterliegt aber letzten Endes auch der Ressourcenfrage. Man denke an eine Belagerungssituation, wo die Gemeinsamkeit der Belagerten eine Überlebensfrage ist und diese, wenn das Wasser ausgeht, trotzdem übereinander herfallen.
Bezüglich der Wirkung ausbleibender Ressourcenströme denke man an das Ende zahlreicher Großreich aus Vergangenheit und Gegenwart. Entweder minderte die Versteppung des Bodens die Ernten oder die nachlassende Verwaltung, der fallende Organisationsgrad ruinierte die Produktionsmittel. Die Bruchstücke der zerfallenen Großreiche hatten jetzt einen Umfang, der der Reichweite des verbliebenen Organisationsgrades entsprach. Die zentrale Steuerungsvollmacht ging an eine Vielzahl von Clans über. Umgekehrt sind die ökonomischen Weltreiche die Folge eines ständig steigenden Organisationsgrades, der z.B. mit seinen Nachrichten- und Verkehrsnetzen bis in die entlegensten Winkel der Erde reicht. Ein Mittel und Zeichen der ökonomischen Weltherrschaft, besser der Weltherrschaft der Ökonomie heute ist zB das Internet.
4.5.3.5 Die Mission
Ob der Fromme glaubt ist zweifelhaft, daß er aber glauben lassen will, ist evident. Die Zahl der Mitgläubigen gibt Sicherheit und stabilisiert das Weltbild. Millionen Gleichgesinnte können sich nicht irren. Die Gläubigen halten sich an bekannte Regeln, sind durchschaubar und verständlich, von oben auch lenkbar. Dies gibt einen logischen Grund für die Möglichkeit jeglicher Bereichsbewegung - die Mission stellt Gemeinsamkeit und Verständlichkeit her und diese ist Voraussetzung für gesellschaftliche Lenkung und Bewegung. Dem korrespondiert das psychische Bedürfnis nach Bestätigung und Gleichheit, so daß diese sich auch ergeben wo die logische Voraussetzung nicht gesehen wird.
4.5.3.6 Der kleinste Nenner
Empirisch ist zunächst nicht zu übersehen, daß unter Druck eine unwiderstehliche Tendenz zur Vereinfachung des Weltbildes einsetzt. Es muß reduziert werden auf die Sätze, die allen gemeinsam sind. Der logische Grund dafür ist leicht zu finden: eine Norm muß von der Mehrzahl aller Individuen einer Ebene verstanden oder wenigstens gelernt werden, damit eine gemeinsame Bewegung, eine Veränderung möglich ist. D.h. es muß aus der Norm im Laufe ihrer Implementierung alles entfernt werden, was nicht für alle glaubhaft, nicht verständlich, nicht akzeptabel und/oder nicht lernbar ist.
Diesem Prozeß der Vereinfachung kommt zweitens ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität des Weltbildes entgegen. Es ist unabhängig vom intellektuellen Status seiner Träger. Darum hat diese Vereinfachung, die eher eine Vereinheitlichung ist, nichts mit Dummheit zu tun. Islamische Terroristen hatten häufig eine Ausbildung an westlichen Universitäten, was sie am Ende nicht hinderte, ihre Geistestätigkeit auf das Herabschimpfen von Suren zu beschränken. Desgleichen wurden die Bücherverbrennungen in Deutschland von Studenten betrieben. Kurz, der Fundamentalist kennt keine Argumente.
Ein drittes Moment der Vereinfachung ist die Notwendigkeit der Tat. Ein untragbarer Zustand muß verändert werden, gleichgültig ob zum Guten oder zum Schlechten. Das Schlechte wird aus dem Gesichtskreis gedrängt und wo es nicht verschwindet, wird es zum Guten - am Ende wird der Tod geschönt. Folgen hat in der Masse bzw. in der Sozietät nur die gemeinsame Tat. Daher wächst mit dem Tatendrang das Bedürnis nach Einordnung. Das Fragliche und das Divergierende werden ausgeschieden bzw. verboten. Der Preis der Gemeinsamkeit ist die Vereinfachung, der Preis der Tat ist die die Teilung, die Teilung der Welt in Gut und Böse. Denn wie soll ich zuschlagen, wenn ich vor der Schlacht aufgefordert werde zu differenzieren, zu zweifeln oder zu begründen?
4.5.3.7Zur Normbildung lassen sich jetzt sieben Faktoren zusammenfassen, die auf Normung hinwirken oder sie ermöglichen:
1. Das Wissen, Verstehen und Können als Grundvoraussetzung; ohne ein Verständnis für Informationen (eigentlich: das Verständnis, das die Struktur einwirkender Energie zu Information macht) und ohne die Fähigkeit zu ihrer Ausführung können sie nicht befolgt werden.
2. Das Wollen (oder die Folgebereitschaft); sind die anderen Faktoren stark genug, können sie es jedoch ersetzen.
3. Eine gemeinsame Zielvorstellung, die die Ausrichtung erleichtert.
4. Der Druck der Gemeinschaft; einem bereits genormten Umfeld ist außerordentlich schwer zu widerstehen.
5. Das physische Gedränge, das geistige Durch- und Gegeneinander, in dem kein Fortkommen ohne Gleichrichtung möglich ist, setzt die Notwendigkeit der geistigen Gleichschaltung und -richtung. M.a.W. zeigt sich eine logische Notwendigkeit für eine Gleichrichtung, die auch gegen die eigene Überzeugung, sozusagen unter dem Zeichen der Vorläufigkeit vollzogen wird.
6.Die Macht der Struktur, die zunächst Gemeinsamkeit und dann Lenkung ermöglicht und erhält. Sie richtet den gesamten Bereich technisch, psychisch und sozial so aus, daß Information die von oben ausgeht, zu Aktion unten wird. Weiße Flecken auf der Normkarte werden in den Bereich integriert und gewissermaßen “eingenormt”.
7.Die Differenz zum Umfeld, die die eigene Identität hervorhebt und begründet.
4.5.4 Die drei Momente der Norm
Wille, Motivation und Vermögen / Fähigkeit,
(Letztere in wechselnder Gestalt zwischen
Dressur, Kompetenz und Inspiration)
Im Allgemeinen gilt als Norm ein gemeinsames Wollen oder die Bereitschaft, sich einem Willen unterzuordnen. Es gibt zwar auch Definitionen, die den Willen als Hauptbestandteil der Norm sehen; da dieser jedoch kaum ohne, aber sehr wohl durch Kompetenz und Disziplin ersetzt, ja überwundne werden kann, muß man die Anteile getrennt untersuchen.
Hier beachte man, daß das Moment der Kompetenz in einer zielführenden Norm nur gebraucht wird, wenn es um konstruktive Ziele geht. Die Destruktion braucht jedenfalls weniger Kompetenz. Ein Haus bauen kann nur, wer das Metier beherrscht, ein Haus in Brand setzen kann jeder. So kommt es, daß die Helden, wenn es ans Aufräumen geht, immer den Anblick eines Holzfällers bieten, der den falschen Baum umgesägt hat. Müssen sie aber nicht selber aufräumen, dann bleiben sie hoch auf dem Sockel.
4.5.4.1 Folgebereitschaft und Folgefähigkeit
Wir hätten damit im Konstruktiven zunächst Folgebereitschaft von Folgefähigkeit zu unterscheiden. Das Gelernte und Geübte hat nämlich eine derartige Eigendynamik, daß es unter Druck nur gegen eine große Willensanstrengung im Zaum gehalten werden kann. M.a.W. das Gelernte / Geübte kann sich bei entsprechendem Druck gegen den Willen durchsetzen.
Am deutlichsten zeigt sich diese Tatsache beim Militär. Man weiß, daß es unter Lebensgefahr praktisch keine Alternative zum besinnungslosen Abspulen des Eingeübten gibt. Es ist vielleicht nicht das einzige, was einem einfällt, aber das einzige was man kann. Die Umstände beispielsweise einer kriegerischen, oder allgemeiner: einer Situation unmittelbarer Gefährdung sind so, daß man in der Regel nichts anderes tun kann als das Eingeübte. Perfekte Übung setzt sich auch gegen den eigenen Willen und Widerwillen durch,
jedenfalls bis kurz vor dem Ausbruch der totalen Panik; ohne Übung aber bringt der stärkste Wille keinen Effekt. Auch Motivation kann vielleicht durch Furcht vor den eigenen Vorgesetzten ersetzt werden. Aber Kompetenz als Voraussetzung konstruktiven Handelns kann nicht ersetzt werden.
Auch im Produktionsbereich ist die Ausübung von Kompetenz das einzige Mittel, den ökonomischen Zwängen auszuweichen. Die Arbeit, die Erfüllung eines Fertigungsauftrages bringt mir soviel an abstrahierten Ressourcen, daß ich der schnellen Verarmung entgehe.
4.5.4.2Wechselwirkungen zwischen den drei Momenten der Norm
Fassen wir Übung und die dazugehörige ebenenspezifische Kompetenz als Dressur oder Disziplinierung zusammen, nennen den ungerichteten Willen, der die Energie für soziale Bewegung liefert Impetus oder Drang und den Kristallisationskern aller Intentionen Ziel, mit der Möglichkeit es durch Intuition selbständig zu erreichen, dann haben wir die drei Facetten der Norm. Ein daraus gebildetes Dreieck erlaubt uns die gegenseitigen Einflüsse dieser Normbestandteile zu veranschaulichen. (Ähnliche Betrachtungen muß die Handlungstheorie anstellen; hier interessiert aber nur der Zusammenhang mit der hierarchischen Steuerung.)
Bei der Dressur braucht das Ziel nicht bekannt zu sein; es wird erreicht durch die vorangegangene Fremdbestimmung, durch das Dressieren. Für die Intuition dagegen ist es unerläßlich, da sie den Weg zum Ziel zunächst nicht kennt. Der Drang und die Folgebereitschaft (als individuell bedingter Impetus) sind nichts ohne Dressur, Kompetenz oder Intuition. Sogar für die reine Destruktion muß wenigstens die Bedienung der Waffen und Geräte, die Provokation, die Brandstiftung gelernt sein. Das reine “gewußt wie” bleibt andererseits folgenlos, wenn kein Impetus, sprich keine Energie vorhanden ist.
Die oft tödlichen Folgen ihrer Übertretung oder Mißachtung durch Zugehörige enthüllen den Stellenwert der Sicherheit, die die Dressur verleiht. Es darf keine Verunsicherung durch Beschädigung der Norm zugelassen werden. Ihre Verletzungen sind das Brot des Denunzianten. Da Übertretungen erst oberhalb einer Schicht erlaubt sind, gelten sie inner- oder unterhalb derselben als Anmaßungen und Destabilisierung. Oben gefährden sie nur den Glauben, unten die Steuerung.
Andererseits kann die überzogene Dressur den Impetus abwürgen. Wir bewegen uns also ständig im Dreieck zwischen Impetus, Dressur und Ziel und sehen, wie das Übergewicht des Einen die Wirksamkeit des Anderen und den Bestand des Ganzen beeinflussen. Wirken aber alle drei Momente zusammen (Zeichen im Schwerpunkt des Dreiecks), dann sind ihre Träger unwiderstehlich. Für diese Aussage stehen fast alle Revolutionsarmeen.
Für einfache, aber gemeinsam zu absolvierende Bewegungsfolgen ist die Dressur unerläßlich. Für komplexere Folgen, deren Gemeinsamkeit nur noch im Ziel, beispielsweise einem Produkt oder dem Sieg der Revolution besteht, wird die Dressur als Lernen oder Ausbildung durch geistige Eigenarbeit erweitert. Wo das Ziel gesetzt ist, die Mittel zu seiner Erreichung aber erst gefunden werden müssen, verlassen wir den Begriff der Dressur, sind aber noch innerhalb von “Norm”. Hier ist zwar die freie Intuition gefordert, jedoch eben auf das gemeinsames Ziel gerichtet.
Wirkt nur der Impetus, der reine ungerichtete Tatendrang, dann erwächst daraus allenfalls ein Aufruhr. Verbunden mit Dressur, ergibt sich ein geordnetes gemeinsames Vorgehen, vielleicht eine militärische Revolte. Eine Revolution wird erst daraus, wenn ein Ziel zB in Form einer neuen Ordnung vorgegeben ist und angestrebt wird.
Bei Ablehnung, Haß, unerträglichen Lebensumständen haben wir noch gemeinsame Emotionen, das Ziel verliert aber seine Konturen. Die pejorative Norm tendiert mehr zum ungerichteten Drang. Wir reden von Aufruhr. Hier setzt eine chaotische Bewegung ein, die sich schließlich auf den kleinsten Nenner (s. 5.4) einregelt und -richtet. Die konstruktive Norm dagegen liegt näher an der Kompetenz; der Bau eines Hauses erfordert mehr Wissen als der reine und meist destruktive Tatendrang.
Die affirmative Norm hat dagegen per se ein Ziel; wo das nicht der Fall ist, wie bei der allgemeinen Menschenliebe - einem realen Gefühl übrigens, das Freiheit und Glück zugleich bedeutet - fehlt die gesellschaftliche Wirksamkeit. Die Liebe in einer feindlichen Umgebung kann durch die Konsequenz der Selbstaufopferung verschwinden. Sie hat aber auch gelegentlich, und das enthüllt sie als reale Macht, die Norm der Feindseligkeit aufgelöst. So jedenfalls stellt sich die frühchristliche Glaubensverbreitung dar. Mit ihrem inneren Feind - den Anforderungen der Organisation - hatte sie auf Dauer größere Schwierigkeiten.
4.5.5 Kanalisierung durch Norm und Hierarchie
Immer wenn sich in Sagen und Märchen die tiefsten Wünsche der Menschen äußern, finden wir den Einzelnen, den Starken und Guten, der gegen das hierarchisch gesicherte Böse antritt und es besiegt. Eine tiefe Sehnsucht nach Befreiung aus den Strukturen gewinnt hier Gestalt. Umgekehrt wird das von den Ehrlichen, den Tragöden, dargestellt: der Einzelne scheitert an der Norm, an der Macht, an der Hierarchie. Und dort wo das Märchen einmal wahr wird, zeigt genaues Hinsehen, daß die vermeintlichen Helden nichts anderes getan haben als einer bewahrten Norm zu nützen oder eine zu nutzen. Da sie oft stillschweigend vorausgesetzt wurde, war sie nicht ohne weiteres sichtbar. Der echte Königssohn, zwar im Bettlerkleid, siegte, weil er den Glauben des ganzen Volkes an die Erbfolge auf seiner Seite hatte; der Revolutionär und der edle Räuber konnten sich auf längst formulierte Postulate von Gleichheit und Brüderlichkeit stützen; der Wahlkämpfer wußte die gemeinen und geheimen Wünsche zu hätscheln. Ihre Erfolge bestanden meist darin, daß Personen ausgetauscht wurden; die Strukturen blieben wie sie waren.
Hat man einmal vergeblich versucht, eine Mehrzahl von Menschen zu überzeugen, oder gegen das Etablissement etwas zu bewegen, dann hat man die härtesten Kanalisierungen kennengelernt, die durch soziale Strukturen verursacht werden. Es bedingen nämlich Norm und Hierarchie einander derart, daß eine Regel gesellschaftlicher Bewegungen folgendermaßen lautet: Diedaunten vermögen nichts gegen die Hierarchie und Diedaoben nichts gegen die Norm. Wie jede Regel gilt auch diese nur zwischen bestimmten Belastungsgrenzen, d.h. bis zum Bruch. Bis dahin aber ist sie, die Regel, eine eiserne Kanalisierung aller gesellschaftlichen Bewegung. Sie bewirkt, daß manches sich überhaupt nicht bewegt und daß vieles andere anders ausgeht, als alle Akteure gewollt, ja gedacht haben. Wieder sehen wir, wie die Dichte die Struktur erzwingt und wir erleben, wie Struktur und Weltbild die Pfade einengen, auf denen Individuen sich selbst und die Welt bewegen können.
4.5.5.1 Verborgene Norm
Umgekehrt verbergen sich die Normstrukturen zB in der Wirtschaft nicht hinter ihrer Offensichtlichkeit, sondern hinter Komplexität. In einem Industriebetrieb tut und weiß nicht jeder das Gleiche; er kennt vielleicht das Endprodukt seiner Tätigkeit, aber er reagiert auf jede Anordnung mit sehr unterschiedlichen, komplexen und trotzdem genau definierten Folgen von Bewegungen und Gedanken. Er hat also das Verständnis und auch die Folgebereitschaft für den Befehl, aber man kann die betriebliche Disziplin nicht ohne weiteres Norm nennen, weil sie in jedem Mitarbeiter in anderer Weise ausgeprägt und gelernt ist und darum in anderer Weise ausgeübt wird. Trotzdem funktioniert die Hierarchie ausgesprochen normgemäß. Wo ist dann der Normcharakter im Wissen des Abhängigen? Antwort: Nur im gemeinsamen Ziel (Wörterbuch der Soziologie, Endruweit / Trommsdorf, Enke 1989 , S.468), im Endprodukt, auch wenn es abstrakt oder für viele nicht sichtbar ist. Wenn zusätzlich die Produkte eine Vielfalt aufweisen, die es verbietet, von Norm zu sprechen, dann wird diese durch die nächste Abstraktionsstufe dargestellt: durch den Gewinn, die corporate identity, die Bedürfnisbefriedigung oder das mögliche Gemeinwohl, in der Praxis aber immer durch den Bereichs-, hier den Unternehmenserhalt. Über allem liegt natürlich weiterhin die Norm der Hierarchie, (5.3.6) die erst die Hinordnung aller Teile auf das Betriebsziel ermöglicht, d.h. die den Einzelnen eine Anweisung befolgen lassen.
Verborgene Norm ist auch eine geheime Übereinstimmung, d.h. eine Übereinstimmung in Dingen, die der correctness oder der offiziell verkündeten Norm widersprechen und die daher trotz großer innerer Zustimmung nicht ausgesprochen werden. Der routinierte Politiker weiß sie zu nutzen.
Abb. 4 a 4 b
4.5.5.2 Die Kreise der Normdichte
Im Aufbau von Bereichen gibt es neben der hierarchischen Stufung auch eine Sortierung oder Fraktionierung der Individuen nach der Normdichte. Sie kann, aber muß nicht mit der Steuerungsvollmacht korrelieren, d.h. in der Ebene der größten Vollmacht muß keinesfalls der strengste Glaube herrschen. Hemingway meinte sogar, der Papst könne schlechthin an nichts glauben. Normdichte ist ein Maß für die Festigkeit des Glaubens, aber auch für die Durchsetzung des Gehorsams und die Nichtachtung aller normfremden Momente, wie zum Beispiel die bestimmter Gefühle oder gar des menschlichen Lebens.
Die Normdichte ist gering bei den Unbeteiligten des Umfeldes oder den nur hierarchisch interessierten Funktionären, sie ist stark bei den Bekennenden und sie kulminiert in den Fundamentalisten und Märtyrern. Wir haben die kühlen Organisatoren mit geringer und die fanatischen Gefolgsleute mit extrem hoher Normdichte, die Gleichgültigen und die Missionierer, und auf der anderen Seite der Skala die Ablehnenden und die wütenden Gegner. Wer nur seinen materiellen Vorteil oder eine hohe Stellung sucht, muß noch lange nicht von der geltenden Norm erfüllt, von ihren Zielen überzeugt sein. Im Gegenteil hat der Ungläubige es leichter beim Aufstieg, weil ihm Gewissenskonflikte erspart bleiben. (S. Abb. 4b, wo der Einfluß durch die Nähe zur Mitte und die Normstärke durch die Farbintensität dargestellt sind)
So dürfen sich die Organisatoren sicher nicht im Gestrüpp der Norm, in ihren Widersprüchen und gelegentlichen bereichsschädigenden Moral-Forderungen verfangen, da sie sonst im Konfliktfall dem Bereichserhalt nicht besonders dienlich wären. Nein, sie haben die Strukturen ohne Rücksicht auf ihren Inhalt zu verteidigen. Aber, und das bringt die Norm wieder ins Spiel, sie haben diese Verteidigung als normgemäß darzustellen. Die Organisatoren haben nicht etwa selber zu glauben, sie müssen aber das Geschirr der Norm so virtuos bedienen, daß die Masse dem Zügel gehorcht wie ein Pferd. Ein frommer Bischof würde von den Kollegen belächelt werden, aber er hat sich nach unten als Hüter der Norm zu präsentieren. So kann auch die Kenntnis der Norm und das Wissen um ihre Einordnung in die Realität (und nicht nur die Strenge des Glaubens) zu ihrem Erhalt beitragen und als ein Moment der Normdichte gelten.
Der Märtyrer nimmt i.d.R. nicht die Spitze der Hierarchie ein, verkörpert aber das Maximum der Normdichte. Konzilien und Parteitage (und von diesen besonders die anti-hierarchischen) geben ein Bild von der Schwierigkeit der Balance zwischen Norm des Individuums und Ordnung des Bereichs, huldigen aber ausnahmslos dem mehr oder weniger verborgenen Gott der Hierarchie. Und der ist der Gott ALLER, weil der die Funktionen, sagen wir ruhig die Lebensfunktionen, des Bereichs gewährleistet.
Die Normdichte resultiert aber nur zu einem Teil aus der Glaubensstärke. Es geht auch um den Bezug zu anderen, weil erst die Gleichheit der Gläubigen untereinander die Wirkung der Norm ausmacht. Ein einzelner Märtyrer, der nichts anderes vertritt als seine individuelle und von keinem anderen geteilte Weltsicht, kann nur als Sonderling durchgehen. Er opfert sich einer vergangenen, einer künftigen oder einer unmöglichen; also nur seiner Norm, aber keiner gegenwärtigen. Nach allem, was in die Definition der Norm eingeht, sind auch zwei Sonderlinge noch keine Normträger. Wir verlangen eine Mindestanzahl an Gleichgesinnten, um von Norm zu sprechen.
Diese Anzahl kann nicht genannt werden, ebensowenig wie die Minimal-Anzahl der Körner, die einen Haufen ausmachen. Sie muß aber offenbar auf eine in Frage stehende Grundgesamtheit bezogen werden, die durch die genormte Menge beeinflußt werden soll.
Desgleichen wäre die “Gleichheit” selbst zu berücksichtigen. Es nützt ja keine Gleichheit, die Abweichungen einer bestimmten Größe zuläßt. Beispielsweise soweit, daß die Differenz zum Umfeld verschwindet oder soweit, daß keine gemeinsame Bewegung möglich ist. D.h. in die Normdichte muß eingehen ein Faktor, der so etwas wie eine Standardabweichung bezeichnet, aber nicht nur unter den Mitgliedern errechnet, sondern auch wieder auf das Umfeld bezogen. Wie gleich müssen die Gleichen untereinander sein und wie stark müssen sie sich von den anderen abgrenzen? Wieviel Variabilität müssen sie zulassen, um Änderungen des Umfeldes abfangen und verschiedene Hierarchieebenen bilden zu können? Die Fragen können wir nun wieder vergessen, da sie im Alltagsgebrauch und mit den Alltagsbegriffen richtig verrechnet werden.
Zunächst eine Erläuterung der Abbildungen 4a und 4b:
Der Aufbau
Die Abb. 4 zeigt konzentrische Ringe verschiedener Färbung. Sie stellen jeweils Ebenen der Hierarchiepyramide (oder -zwiebel / -spindel) einer Gemeinschaft dar. Außen befinden sich diejenigen der Basis, die durch die größere Fläche zugleich die größere Zahl ihrer Mitglieder anzeigt. Das Innerste bildet die Führungsspitze oder die höchste Glaubensautorität mit den wenigsten Personen. In der Regel ist das weitere Umfeld eines Bereiches neutral, von seiner Norm nicht betroffen, also hier ohne Farbe. Über die Färbung des äußersten Ringes, sprich über die Normstärke der Basis könnte man sich streiten, wenn man die gelegentliche Massen-Gewalt vor Augen hat. Es gab massive gerichtete Explosionen, in denen jedes individuelle Interesse, einschl. des Überlebensinstinktes wenigstens temporär verschwunden war. Im allgemeinen unterscheidet sich jedoch die breite Masse durch geringeres Interesse an Glaubensfragen von den Eiferern und Scharfmachern. Trotzdem kann der emotionale Antrieb mangels Sachkenntnis so gewaltig überschießen, daß der Lenker zum Zauberlehrling wird. Die inneren Ringe, sprich die höheren Hierarchiestufen nehmen an Zahl ab und an Glaubenskenntnis zu. Wohlgemerkt nicht an Eifer, denn nach oben hin geht es um den Erhalt und die Steuerung des Bereichs. Die Norm ist hier eher virtuos gebrauchtes Mittel zum Zweck als innere Richtlinie.
Wird die Norm zum Lebensinhalt und zur Richtlinie, leidet allerdings die Steuerung. Der Märtyrer zB sollte besser von der Führung ausgeschlossen werden, weil sein Eifer, der in der Regel nicht die organisatorischen Anforderungen zu würdigen weiß, durchaus bereichsschädigend sein kann. D.h. die Stelle der höchsten Normdichte hat im allgemeinen keine Steuerungsvollmacht, kann diese jedoch in Krisen vollständig, wenn auch nur kurzfristig übernehmen.
Die pejorative Einstellung zur herrschenden Norm wird im Bild 4 durch eine Umkehrung der Farben ins Kühle dargestellt. Der hell-bläuliche Bereich beispielsweise ist ein graphisches Zeichen für den organisierten Widerstand. Unorganisiert ist dieser Widerstand kein oder nur ein geringes Hindernis für die Aktionen des ursprünglichen Bereichs / der geltenden Norm. Ein Meer von leiser Ablehnung mag die Gefahr späterer Organisation in sich bergen, stört zuvor aber nicht die Maßnahmen der Herrschenden. Erst die organisierte Ablehnung kann sie stören und hindern, erst sie kann den Terror von unten ausüben und ruft den Terror von oben auf den Plan. Das Gewicht des Organisationsgrades wird in diesem Zusammenhang oft mit gravierenden Folgen verkannt. Eine breite aber un
organisierte Ablehnung ist kein Hindernis für die Durchsetzung ungeliebter Programme oder Personen.
4.5.5.3 Die Norm der Hierarchie und
die Norm der Anti-Hierarchen
Die Norm der Hierarchie sagt einfach: “Gehorsam ist des Christen Schmuck”, “Meine Ehre heißt Treue”, “Mein Leben für die Sache”, “Führer befiehl, wir folgen Dir” usw. Das heißt, die Hierarchie wird zum Absolutwert ohne Ansehen ihrer Zielsetzung. Natürlich existiert ein Ziel, sozusagen ein Brennpunkt der Norm in Form von “Gott”, “Gerechtigkeit”, “Befreiung der Menschheit”... , ein Ziel, dessen Erreichung auch den Einsatz des Lebens rechtfertigt. Aber die logische Verbindung zwischen jenem Ziel und der zielführenden Handlung wird durch den Gehorsam ersetzt. Es heißt, was ich von Dir verlange, das tust Du für Allah, die Gesellschaft, die Sache. Auch wenn Du es nicht einsiehst, tu es, denn Du hast Gehorsam geschworen. Man darf darin nicht nur einen gewaltigen Zwang aus der Schwere des Eides sehen, sondern auch eine Kontribution an und eine Erleichterung durch das Sicherheitsbedürfnis. Dem Ausführenden wird die Arbeit abgenommen, den Bezug zu den Gesetzen der Welt herzustellen; er muß nicht die Kausalitäten zwischen Handlung und Ziel nachrechnen, sondern er braucht sich nur auf den Gehorsam zu beziehen. Und es wird meist nur das verlangt, was im Zuge der Disziplinierung eingeübt wurde. Eine doppelte Bequemlichkeit.
Nun gibt es aber auch eine Norm, die ausdrücklich die Hierarchie verbietet. Wie wird diese mit der Hierarchie fertig, die bekanntlich nie verschwindet, sondern allenfalls ihr Gestalt wechselt?
Bisher hatte sich die Norm als Ordnungsbildner schlechthin gezeigt. Was aber, wenn sie gerade diese Ordnung negiert und verdammt? Würde beispielsweise die Norm “keine Macht für jeden” durchgesetzt, so verlöre als erstes die Sozietät ihre Steuerbarkeit. Wir hätten Kulturrevolution, eine Form des gesinnungsreinen Zusammenlebens, die im Hordenverband gepflegt werden kann, aber im Industriezeitalter die Ressourcenströme zum Stillstand bringt. Die Priorität der Gesinnung löst den Produktionsprozeß in Diskussionsrunden auf. Steuerbarkeit, um nochmals darauf hinzuweisen, heißt nicht hierarchisches Ritual, sondern oben die Wahrnehmung und unten die Anerkennung einer Funktion im Sinne gemeinsamen Handelns oder gemeinsamer Ziele.
Unerachtet dieser Rationalisierungsmöglichkeit sind gerade in antihierarchischen Bereichen, meist winzigen Sekten, die Rangfragen von unerhörter Brisanz. Wo es nur um Gesinnung, um die reine Lehre geht, wo keine Funktionalität gefordert oder nötig ist, sinken nicht etwa die Hierarchien in sich zusammen, sondern werden die Rangfragen geradezu pathologisch. Eine bekannte, vorzeiten in Stammheim einsitzende Dreiergruppe schaffte es durch Ausgrenzung, durch Erniedrigung (d.h. Verbringung in eine niedere Ebene) eines Mitgliedes (da man mehr in einer Dreiergruppe nicht ausgrenzen kann), dieses an den, nein über den Rand des Selbstmordes zu bringen.
Oder: der hohe Impetus des Vernichters der Hierarchie, des vorgestellten obersten Antihierarchen, verschafft diesem ein Ansehen, das ihn als Redner oder Ratschläger privilegiert. Er nimmt eine bevorzugte Stellung ein, steht sozusagen an der Spitze der inoffiziellen Hierarchie. Festgelegt, gekennzeichnet oder aufgeschrieben ist jedoch darüber nichts. Es geht um die Anerkennung, die immer wieder in Frage gestellt und erworben werden muß. Das antihierarchische Milieu perpetuiert die Rangfragen und -kämpfe durch ihre Verleugnung.
4.5.5.4 Die Formalitäten
Auch auf niedriger theoretischer Stufe läßt sich eine hohe Normdichte beobachten. Der unbedingte Wille, die Norm einzuhalten, bezieht sich dort auf die sog. Formalitäten, auf die Sauberkeit der Uniform, die Einhaltung der Liturgie, der Grußordnung, des Tabus, des Kopftuchs, des Wortlauts usw. Der eigentliche Glaube bildet zu diesen Stabilisatoren des Weltbildes nur einen diffusen Hintergrund, einen oft kaum sichtbaren Rahmen, in dem die starren Rituale aufgehängt sind. Deren Kraft darf man allerdings nicht verkennen, denn sie haben, aus Urzeiten überliefert, oft einen hohen Erhaltungswert, oder sie sind im Sinne von Buch_4, Kap. 5.2.1 “Die Ordnungsmacht des Nutzlosen” einfach ein Moment der Norm, das den Bereich durch seine Stabilität stabilisiert. Sie sind ein Halt im Meer der Kontingenz, sie sind das Sichere das man tun kann im Unsicheren das man erfährt.
Rituale unterscheiden sich ja dadurch von Handlungen, daß sie nicht zielführend sind oder daß sie sogar kontraproduktiv sein können. Aber sie nehmen den Handlungsdruck vermöge einer verborgenen Kausalität, die das Ziel auf dem Umweg über die Götter erreicht.
4.5.5.5 Die Übersetzungsfunktion
Es geht weiterhin um die Eigenschaften einer Struktur, die der Gesellschaft Unmögliches und Unmenschliches ermöglicht, aber mit derselben Macht das Notwendige blockieren kann. Die Stufung nach der Normdichte impliziert das wichtige Moment der Zumutbarkeit von Befehlen und Informationen. Die Zumutbarkeit (der Norm, nicht der Arbeit) ist im Gegensatz zum Glaubenseifer genau nach den hierarchischen Schichten gestuft. Dem Schreibtischtäter können die extremsten Forderungen der Norm zugemutet werden. Er führt sie nicht aus, setzt sie aber um, macht sie durchführbar. Dafür hat er zwei Möglichkeiten: entweder er übersetzt sie durch Begründung in eine zumutbare Form, oder er überträgt sie unter allgemeiner Geheimhaltung an ausführungsfähige Elemente. Mischformen sind die Regel.
Jedenfalls hält der Hoch- oder Höhergestellte auch die extremen Forderungen der Norm im Interesse der “Sache” für zumutbar. “Extrem” hieße hier: weit abweichend vom Alltagsverständnis des Umfeldes.
Wo der Glaube fehlt, wird er durch das Interesse am Bereichserhalt ersetzt. Von einem Außenstehenden kann man nicht erwarten, daß er auf Zuruf in den Krieg zieht, Häuser ansteckt, sich oder andere foltert. Läuft aber eine Information die Kaskade der Normdichte und der Hierarchiestufen hinab, so erfährt sie allmählich eine Übersetzung in die Normalität (der jeweiligen Stufe). Die Normalität einer mittleren Stufe besteht z.B. darin, ein KZ-Lager einzurichten, die Normalität einer höheren Normdichte darin, die Insassen umzubringen. Die Ausführenden sind dann entweder “Normlose” (Kriminelle, geringe Normdichte) oder von der Norm Besessene (“Überzeugungstäter”, hohe Normdichte). Wird der Information / Anweisung dann nachgeholfen durch das Bewußtsein, daß die höhere Schicht einen direkten Zugriff auf das Individuum der niederen hat, macht sie die Forderung des Tages unwiderstehlich.
In hierarchisch organisierten Bereichen nimmt die Übersetzungsfunktion einen beträchtlichen Raum ein. Hierarchiestufen sind nicht nur Lenkungsinstrumente für funktionsfähige Unterbereiche, sondern überbrücken die Differenz zwischen Norm und Welt. Sie bringen die absoluten Forderungen der Norm auf das Niveau der Zumutbarkeit und der Realität. Es gilt, Machbarkeit herzustellen, es gilt, das für den Bereichserhalt Erforderliche zu rechtfertigen - mit Rekurs auf die Norm. Umgekehrt sind die Bremsen der Eifrigsten gerade so weit zu lösen, daß der gewünschte Effekt eintritt. Beides muß oft gleichzeitig bewerkstelligt werden. Beispiele sind das Kapo-System im KZ ([zB Wolfgang Sofsky, "Die Ordnung des Terrors", S. Fischer 1993] S. 152, “Machtstaffelung und Selbstverwaltung”, bes. der erste Absatz), ein anderes die Gewerkschaft im Sozialismus als “Transmissionsriemen der Partei”, die Management-Ebenen in der Wirtschaft, gemeindenahe Pastoren usw.
Jede Schicht übersetzt Information und rechtfertigt Aktion. Der “Normalo” versteht den Märtyrer überhaupt nicht. Der dem Märtyrer benachbarte Fundamentalist versteht ihn sehr gut; er ist sozusagen nur einen Schritt von ihm entfernt. Ein geringer Anstoß könnte ihn zur Übernahme des tödlichen Amtes bewegen. Auch einen Ring tiefer, im Umfeld des strikten Glaubens, versteht man zwar noch den Märtyrer, wird ihm aber nicht ohne weiteres folgen. Noch weiter unten, wo der Glaube eher passiv anerkannt wird, schwindet auch langsam das Verständnis. Der Märtyrer wird nicht abgelehnt aber auch nicht unterstützt. Schließlich kommt die Ebene, wo man den Kopf über ihn schüttelt und danach das Umfeld in dem er abgelehnt und verfolgt wird. Eine Argumentation aus dieser Gegend ist auch für den Märtyrer unverständlich und irrelevant. Man sieht die strukturelle Notwendigkeit eines Vermittlers, der, notfalls ohne zu glauben, die Sprachen jeweils beider Ebenen beherrscht. Man sieht die Notwendigkeit abgestufter Glaubensstärke und -kenntnis.
So bilden sich um ein Zentrum die verschiedenen Kreise der Normdichte dem Grade der Zustimmung und Zumutbarkeit nach absteigend von den Normhütern selbst, über die Interpretatoren, die Träger des absoluten Gehorsams, des aktiven positiven Verständnisses, des passiven Verständnisses, der Tolerierung, der Gleichgültigkeit, des Unverständnisses, der Ablehnung, bis zu denen der verhohlenen und der unverhohlenen Gegnerschaft. Auch die Gegnerschaft organisiert sich in einer Hierarchiepyramide und in den Ringen verschiedener Normdichte. S. Abb. 4, blaue Ringe). So wird verständlich, wie der Terror auch in einem moderaten und “vernünftigen” Umfeld gedeihen kann. Niemand in der großen Mehrheit muß ihn wollen, ja er braucht nicht einmal akzeptiert zu werden, um tätig zu sein - es muß nur die Masse der Ablehnenden etwas Verständnis für die Verstehenden haben und die Verstehenden müssen den wenigen Zustimmenden zustimmen können...
4.5.5.6 Die Schutzfunktion der Kreise
Ein Kreis schützt und separiert den anderen, so daß ihre Exponenten sich in ihnen bewegen, wie “ein Fisch im Wasser”. Im Schutz der Toleranz kann sich der Parteigänger, im Schutz der Parteigänger der Fundamentalist und im Schutze der Fundamentalisten der Terrorist und der Märtyrer entfalten. Hierarchische Systeme haben neben der Ökonomie den unschätzbaren Vorteil, daß ihre Elemente sich (wenigstens im Status des Funktionierens) immer nur auf die unmittelbar angrenzenden Ebenen beziehen müssen. Diese teilen sich den Übersetzungsaufwand. Es gilt für die Individuen nur die Normdifferenz zwischen zwei Kreisen oder zwei Ebenen zu überwinden, nicht die zwischen dem reinen Weltbild des Glaubens und der Welt selbst. Das übernimmt der Gesamtbau der Hierarchie schrittweise über alle Stufen hinweg.
Hier liegt auch die grundsätzliche Schwierigkeit von Straf- und Schuldzumessung für die Greuel eines Systems. Der ausführenden Ebene sind zwar die Taten meist direkt zuzuordnen, dafür sind die Sanktionsdrohungen bei Nichtausführung so klar, daß strafrechtlich relevant nur die sadistische Übertreibung bleibt. Die verschiedensten Gesellschaftssysteme sind derart auf hierarchische Strukturen angewiesen, daß sie alle den “Befehlsnotstand” anerkennen.
Auf den Zwischenstufen summieren sich die Anteile am Ergebnis gemäß dem Umfang der gesteuerten Ebenen und vermehren die Zahl der Mitschuldigen. So verstärkt und vervielfältigt sich deren Wirken nach den Gesetzen der funktionalen Hierarchie. Die Aktionen der Lenker zeitigen dann oft furchtbare Folgen; der Mord wird zum Massenmord, der Massenmord zum Genozid. Andererseits ist vom Schreibtisch aus nur das Maß an Konkretisierung geleistet worden, daß die Differenz zwischen darüber- und darunterliegender Ebene überbrückt, ohne daß Hand angelegt wurde - ein schwierig zu bewertender Einfluß des Einzelnen oder seiner Ebene. Dies hat im Sinne der Rechtsstaatlichkeit auch bei so üblen Parteigängern wie Eichmann zu endlosen Recherchen von Zuständigkeiten geführt. Noch weiter vom Geschehen befinden sich die Normsetzer und -hüter, die sich angesichts der erreichten Ergebnisse erst bestätigt und dann mißverstanden fühlen.
Die Übersetzung kann auch eine Verstärkung, wie z.B. durch den Typus des Brandredners bedeuten. Allerdings erweist sich diese “Verstärkung” bei näherem Hinsehen eher als eine Kanalisierung oder Fokussierung. Sie setzt nämlich einen beträchtlichen aufgestauten Impetus in der Masse voraus. Ohne diesen kann der Brandredner zwar ein Ziel vorgeben, wird aber dorthin keine gemeinsame Bewegung zustande bringen. Er ist auf eine vorhandene Energie angewiesen, die er nur noch lösen und richten muß.
Man sieht, aus dem Pendant der Übersetzung - dem Verständnis - ergibt sich die Schutzfunktion der Hierarchie. In diesem Fall nicht ganz der Hierarchie, sondern der Stufung nach der Normdichte mit den bereits beschriebenen Abweichungen. Der Terrorist findet Schutz und Unterschlupf im unmittelbar benachbarten Kreis der fundamentalistischen Überzeugungen, nicht aber bei deren Theoretikern oder gar bei denen, die von diesen Überzeugungen gehört haben, ohne sie zu teilen. Die Fundamentalisten wiederum können sich im Kreis der Zustimmenden bewegen, solange sie dort keine terroristischen Ziele vertreten. Bei den Gleichgültigen aber würden sie auf Unverständnis stoßen usw.
4.5.5.7 Die Gegenmacht
hat, wie bereits bemerkt, das Problem der Aufklärung in Gestalt der Um-Normung und das Problem der Struktur als Aufgabe der Neuorganisation, oder, da die Struktur sich erfahrungsgemäß kaum ändert ... das Problem der Neubesetzung. Damit hat sie ein beträchtliches Handicap zu überwinden. Die Tatsache des ungeheuren Wachstums der Ressourcenströme gibt ihr jedoch eine weitere Chance. Die Steuerung dieser Ströme ist zwar in die gesamtgesellschaftliche Hierarchie eingebettet, aber an bestimmten Konzentrationspunkten (wie z.B. Schaltpulten, Staumauern und Stellwerken) den Mitgliedern der Basis (-ebenen) übertragen. Letztere steuern dort zwar keine Personen aber gewaltige Sachen.
Hier haben diejenigen, die keine Macht über Menschen ausüben, eine solche Macht über Ressourcen, daß sie letztere “illegal”, d.h. gegen die etablierte Hierarchie durch Streik, Sabotage, Terror etc., umlenken oder stilllegen können. Die Hierarchiepyramide (der “Wissensgesellschaft”) zeigt sozusagen einen Kurzschluß auf dem Weg von der Information zur Aktion; dieser wird ausgelöst unter Ausschaltung der höheren Stufen. Betroffen ist dann der Gesamtbereich, der die Abhängigkeit vom ununterbrochenen Fluß der Ressourcen schmerzlich und erhellend zu spüren bekommt.
Sofern Gewalt, z.B. die hobbes’sche “power irresistible” im Hierarchiebildungsprozeß wirkt, hat sie auch ein durch die Struktur bedingtes Maß. Hobbes nennt sie unwiderstehlich, leitet aus ihr die Macht und deren Rechtfertigung ab; aber wie groß muß sie sein im Vergleich zu den durch sie Beherrschten? Nach allem, was aus Stammeskulturen bekannt geworden ist und vor allem, was von der Biologie und den aus ihr bekannten Schwankungsbreiten oder Streuungen folgt, muß und kann sie niemals so groß werden, wie die aller Beherrschten zusammen. Die Kraft des Alpha-Tieres oder des Häuptlings, sofern sie das Auswahlkriterium ist, muß nur so groß sein, daß sie zur Bezwingung des Zweitstärksten ausreicht. Wer umgekehrt die etablierte Herrschaft niederringen will, muß mehr leisten. Er muß gegen die gesamte Struktur ankämpfen. Er muß Norm und in gewissen Grenzen die Struktur neu implementieren, sofern er nicht nur auf Destruktion aus ist. Ihn stützt lediglich eine diffuse Norm der Unzufriedenheit, die immerhin auf Veränderung drängt.
Andererseits hat die Gegenmacht den Vorteil, an einzelnen Punkten angreifen zu können, während die Macht das Ganze, den Bereich verteidigen muß. Letztere findet sich in der Rolle des Belagerten, der sich rundum zu sichern hat, während der Belagerer sich die schwächste Stelle aussuchen kann. Die Mauer gibt dabei das Bild für die etablierten Strukturen, die den Bereich noch schützen, wenn die Norm schon geschwächt oder sogar verschwunden ist. Der Verteidiger hat den psychologischen Nachteil, daß sein Erfolg sich im bloßen Erhalt manifestiert: es ist wie es war. Der Angreifer kann auf die Bresche zeigen und sich rühmen: das ist mein Werk!
Was die Handlungsfähigkeit von Sozietäten angeht, erhellt wieder die Forderung nach einem kleinen, stabilen Weltbild. Die Steinigung einer Witwe oder ein Selbstmordattentat sind im Milieu von Steinwüsten oder Flüchtlingslagern weit reibungsloser ins Werk zu setzen als auf dem Campus der Wohlstandswelt.
4.6 Die Organisation und das Böse
(eine Anwendung des bisher Ausgeführen
auf das Tagesgespräch - bis einschl. 4.6.6)
Die Art, wie die Organisation oder besser der hohe Organisationsgrad die Menschen erkältet, entmenscht und funktionalisiert, ist von vielen Vertretern der Psychologie und Soziologie weitläufig behandelt worden. Dem kann auch nicht widersprochen werden. Widersprochen werden soll aber der These, daß diese Verbösung die Voraussetzung für schlechte Verhältnisse sei. Wenn, wie bereits in anderem Zusammenhang referiert, jemand die Verhältnisse in den Favelas so hanebüchen kommentiert, daß nicht die sichtbaren Verhältnisse als solche, sondern erst die durch sie hervorgebrachten Bösen oder wenigstens die unsichtbar dahinter liegenden sozialen Verhältnisse am Sichtbaren schuld seien, dann ist damit die Hauptdifferenz dieser Betrachtung zur kritischen Theorie ausgesprochen.
Was für ein Unsichtbares soll es sein, das das in die Augen springende Elend verursacht oder ungeschehen macht? Oder: welche anderen sozialen Verhältnisse, als die Sichtbaren, sollen sich unter dieser Dichte entwickeln können? Welche unsichtbaren Verhältnisse sollen hinter den sichtbaren versteckt sein? Wieviel verborgenes Glück ist möglich in der offenbaren Dichte der Favelas? Auch das Innere der Menschen, ihre psychische Verfaßtheit erwächst ja aus dem Sichtbaren und steuert es erst rückwirkend, wenn es zur Norm wird. Nicht aber so, wie es der Hollywoodschauspieler Brad Pitt, die kritische Theorie auf die Spitze treibend, formuliert hat: “... wenn alle Menschen sich einer Psychoanalyse unterzögen, gäbe es keine Kriege mehr.” Sondern so, daß erst die Entspannung in den unteren Ebenen einen Organisationsgrad auflöst, der z.B. den Krieg oder die Mafia ermöglicht.
Auch nichtdisziplinierte Individuen, freundlich und offen gestimmte Charaktere, kippen unter ausreichendem Druck (wenigstens temporär) in hemmungslose Gewalttätigkeit um. So kann man den sog. jungen Völkern kaum eine langdauernde bürokratische Disziplinierung nachsagen, findet aber trotzdem ein reiches Maß an blutigster persönlicher Gewaltausübung. Unter den anonymisierten mechanisierten Bedingungen höheren Organisationsgrades, sprich der Zivilisation, erreicht diese Gewalttätigkeit natürlich ganz andere Dimensionen. Sie bringt aber wegen geringerer persönlicher, meist nur mittelbarer Beteiligung kaum eine Entladung oder gar eine Ermattung der Gewalt durch Schuldgefühl und Selbstekel. Die Folge ist ein permanentes Morden.
Die Alternative zur schmerzhaften Anpassung durch Disziplinierung ist, sofern man die Verdichtung nicht aufhalten kann, ein schnellerer Zusammenbruch - sowohl militärisch als auch politisch, gesellschaftlich und schließlich ökologisch. Die Disziplinierung weist damit eine Analogie zum Ressourcenstrom auf: was dieser für materielle Bewegungen bedeutet, nämlich ein auf die Dauer tödliches Überlebensmittel, das ist sie im Organisatorischen.
4.6.1 Die Hierarchie und der Krieg
..1.1 Reine Gewaltausübung
Das Militär für sich als Muster der Rang- und Funktionshierarchie bedarf keiner gesonderten Behandlung. Akteure und Agierte im gesamten Kriegsgebiet aber bilden wechselnde Hierarchien, Ränge und Dominanzen, die im Lichte des bisher gesagten gewisse Regelmäßigkeiten, um nicht zu sagen Regeln offenbaren. So kann man sich zunächst fragen, ob die reine Gewaltausübung mit dem Ziel der Vernichtung überhaupt noch das Muster der Hierarchie erfüllt. Es entfällt nämlich das Moment der Lenkung, also das Tun der gelenkten Ebene, das mit ihrer Vernichtung ja nicht mehr möglich ist. Bei den Massenmorden im KZ gab es noch rudimentäre Lenkung bis zur Vernichtungssituation hin, bei den Flächenbombardements der Städte auch diese nicht mehr. Wenn wir trotzdem die Opfer als die völlig machtlos Behandelten in die unterste Ebene einordnen, haben wir zumindest das Machtverhältnis richtig dargestellt. Und wir können konstatieren, daß es noch nie in der Geschichte derart umfangreiche betroffene Schichten ohne jeden Einfluß auf das Geschehen gab. Die Extremsituation fand sich in einigen Szenarien des möglichen Atomkrieges: tief eingebunkerte Militärs schießen Massenvernichtungswaffen auf den jeweils zum Feind erklärten Teil der Bevölkerung, bis es nichts mehr zu besiegen gibt.
Wie war es mit der Norm der Machtlosen bestellt? Trotz gegenteiliger Bekundungen muß man sagen, sie war gleichgültig für den Lauf der Welt. Mut oder Feigheit, Glaube oder Gleichgültigkeit spielten keine Rolle. Niemand fragte die Insassen der Luftschutzkeller, ob sie durchhalten wollten oder nicht. Es gab nur die rein individuelle und selbstgestellte Aufgabe, nicht durchzudrehen. Auf die Situation hatten sie nicht den geringsten Einfluß; nicht einmal, wenn alle Insassen im Luftschutzkeller verrückt wurden, war das für die militärische Führung ein Grund ihre Pläne zu ändern. Sie fanden sich unten in derselben gestressten Reg- und Nutzlosigkeit wie die globalisierten Überflüssigen von heute. Der Bombenkrieg war, strategisch gesehen, die absolute Hirnlosigkeit, da seine Opfer einer Hierarchiestufe angehörten, die ihnen jeden Einfluß auf die Kriegsentscheidungen versagte. Was sie auch immer fühlten und litten, was ihre Meinung zur Kriegführung anbetraf - die Oberen konnten es getrost ignorieren.
Kaum anders befanden sich, allenfalls etwas zeitversetzt, die uniformierten Nützlinge. Die anfängliche Norm einer gewissen Kriegsbegeisterung erwies sich im Verlauf von Dressur und Einordnung als überflüssig. Können und Müssen übernahmen schnell die Rolle des Wollens und erhielten, ja verbesserten die Lenkbarkeit. Den nötigen Druck erzeugte die Kriegssituation, die bekanntlich dafür sorgt, daß tätige Feindesliebe als Selbstmord endet.
4.6.2 Militär- und Zivilbereich
In der gegenwärtigen Praxis gilt dies, nämlich die Unberührbarkeit der Lenker durch die Opfer besonders für das Militär auf Seiten des höheren Organisationsgrades. Es hat hauptsächlich logistische Aufgaben zu erfüllen, die auf die Vernichtung des gegnerischen Militärs, eigentlich oder vorgeblich seiner Aktionsfähigkeit, gerichtet sind. Mangels Peilung befinden sich jedoch die Opfer eher unter den Betroffenen als unter den Betreffenden, womit der Nachschub der Bösen gesichert ist.
Auch moderne Embargos unterliegen demselben Fehlschluß wie die Bombardements des zweiten Weltkrieges, dem Fehlschluß, daß die Drangsalierung der Zivilbevölkerung Einfluß auf die Entscheidungen militärische Kader hätte. Vielmehr und viel deutlicher ergab sich eine internationale Solidarität der Entscheider. Bis auf einige Köpfe, die der Norm der empörten Sieger geopfert werden mußten, gingen höhere Würdenträger nicht in die Lager. Rache genommen wurde nicht an den Nutznießern, sondern an den Trägern, schließlich den Opfern der Norm. Es haften nicht die Treiber, es haften die Erreichbaren, aber nicht auf Grund ihres Tuns, sondern wegen erkennbarer Zugehörig- und Erreichbarkeit.
4.6.3 Norm und Krieg
Die Norm hatte in ihrer einfachsten Form nur ein Merkmal: die Zugehörigkeit. In aktuellen Kriegs- oder Schlachtensituationen ist nichts anderes als diese Form möglich. Ob Rassismus, Besitzstände, Not oder Feindseligkeit vorliegen, ist für den Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzung gleichgültig. Der Witz “laßt uns lieber reden” bleibt ein Witz, weil die gesamte technische und organisatorische Struktur des Militärs, ja eigentlich der Hierarchie schlechthin, einen Diskurs zwischen den Parteien nicht zuläßt. Wie soll der Grabenkrieger mit dem hoch über ihm tätigen Piloten in Kontakt treten? Die Gefährdung des Einzelnen zwingt ihn, sich in besagtes, in sein Schema einzuordnen. Die feindlichen Parteien mögen in Kampfpausen miteinander Fußball spielen wie im Sechstagekrieg - ohne jeden persönlichen Haß der Individuen nehmen zwei Bereiche im Spannungsfall sofort und wie vorherbestimmt durch Technik, Norm und Hierarchie eine Gestalt an, die auf die Vernichtung des jeweils anderen gerichtet ist und den Diskurs beendet.
Die Individuen, auch diejenigen, die sie nicht gekannt haben, lernen Zugehörigkeit. Sie werden ein- und zugeordnet, nicht nach ihrer Intention, sondern nach ihrer Situation. Im Spannungsfall gibt es kein Niemandsland, es gibt nur diesseits oder jenseits. Der Terror, der nichts als die Zugehörigkeit kennt, generiert so die Gegen-Norm auch dort, wo sie vorher nicht zu finden war. Er macht aus Betroffenen und Getroffenen automatisch Zugehörige der Anderen. Da unter hohem Druck die Abstoßungskräfte überall wirken, also auch dort, wo die Gegner topologisch ineinander verzahnt sind, wird man ohne Bekenntnis niemandes Freund und jedermanns Feind. Der große Krieg verbietet sich; eine Entladung oder Ermattung im Großen kann sich nicht einstellen, wodurch sich in der Verzahnung die Auseinandersetzungen perpetuieren. Siehe Pasrael, das sich bei extremer Verdichtung in einem Zustand unablässiger Friedenssicherung befindet.
4.6.4 Zeitlicher Verlauf
Die Norm der Kriegsbegeisterung läuft mit der Zeit der Realität entgegen. Nasse Schützengräben, Wundbrand und Erfrierungen, Vergiftung und Verstrahlung lassen schimmernde Wehr und klingendes Spiel bald vergessen. Aber der Krieg hört nicht auf, denn mit der sinkenden Norm hat die Hierarchie das Regiment übernommen. Wilde Ferien und Aufbruchstimmung wurden abgelöst von Kriegsrecht und Kettenhunden. D.h. die Ordnung, in diesem Fall die Kriegsordnung, ist über die Norm hinaus durch die Hierarchie gesichert. (Von den Momenten der Norm - Können und Wollen - ist das Können allerdings nicht verzichtbar) In dem Wechselspiel von Struktur und Psyche hat in dieser Phase des Krieges die Struktur das Übergewicht.
4.6.5 Terrorismus
Was den Aufbau der Bereiche betrifft, so bilden die Kreise der höchsten Normdichte kleinste, aber wirksamste Einheiten. Wie die gehärtete Spitze eines Speeres nehmen sie nur einen winzigen Teil des Bereichs-Volumens ein, bestimmen aber die gesamte Effektivität. Sie stehen oft sogar außerhalb der Steuerungshierarchie des Bereichs, werden aber natürlich durch eine eigene Unabhängige für sich gesteuert. Obwohl die durchschnittliche Norm aller Individuen weit von der Radikalität der höchsten Normdichte entfernt ist, wird diese durch die Kreise zunehmender Normdichte erhalten und vor den Zumutungen der Vernunft geschützt. Gelegentlich wird sie auch instrumentalisiert, um durch ein Wechselspiel von Mäßigung und Terror politische oder ökonomische Ziele zu erreichen.
Der Terror teilt die Welt, denn es gibt immer den Terror der Unsrigen und den Terror der Anderen. Er ist die Armee der Ungehörten und der Tod der Normalität. Unter Verdichtung erhält der Terror das Gesicht der anderen - ? Nun, er kann auch das eigene haben. Schwerer wiegt, daß die anderen das Gesicht des Terrors erhalten, weil er sich “bei denen” nicht hinter den Ringen abnehmender Normdichte verbergen kann. In der Entfernung verschwinden die Differenzen und alle kondensieren zum Täter.
4.6.6 Extreme Normdichte - die Speerspitze
Die extreme Normdichte muß dafür außerhalb der Gesamt- und Ressourcensteuerung angesiedelt sein. Sie hat sich durch Verzicht oder Subventionierung von den kanalisierenden Notwendigkeiten des Ressourcendienstes freizuhalten. Sie ist nicht geeignet, die stetige Disziplinierung der Berufsarbeit und des Erwerbslebens zu gewährleisten. Sie erwächst auch aus den Teilbereichen, die nicht dieser Art Langzeit-Disziplinierung und und damit auch nicht ihrer Erträge teilhaftig wird. Gleichwohl treibt sie eine temporäre Disziplinierung bis über die Grenzen des Lebens hinaus. Terrorist und Märtyrer treffen sich in der extremen Verneinung aller biologischen, ja menschlich-humanen Regungen zugunsten der Gewißheit. Durch keinen Zweifel angekränkelt, bringen sie dem Glauben das Opfer. Das Bedürfnis nach ideologischer Sicherheit, nach der Stabilität des Weltbildes destruiert alles, was durch die Ambi- und Multivalenzen der Durchschnittsnorm geheilt werden könnte, alles was Leben, Kunst und Wissenschaft an Vielfalt in die menschliche Existenz tragen.
An dieser Stelle funktioniert natürlich das Individuum am besten, das dort Ausfälle oder Fehlstellen hat, wo normalerweise die Menschlichkeit sich finden soll. Nun greift aber gerade hier unter Druck die Teilung der Menschen in Feinde und Freunde derart, daß Destruktion nach der einen Seite auch Fürsorge für die anderen bedeutet. Auf den oberen Rängen ist dieser Ausgleich nicht nötig, da diese immer vom Individuum absehen müssen.
Bleiben wir beim Gleichnis des Speeres, dann finden wir Norm und Hierarchie darin so verwirklicht, daß die Bereichs-Hierarchie die lenkende Hand des Jägers ist, während die Stelle der höchsten Normdichte der Spitze entspricht, die das Blut des Feindes sucht. Die Norm erweist sich damit wiederum nicht nur als eine Voraussetzung jeder Hierarchie, sondern auch als ein Moment, das durch die Anordnung der Dichtegrade und durch die Größe ihrer Differenzen die Form, insbes. die Stufung und Wirkweise des Bereichs bestimmt. Wie schnell ein Befehl in Aktion, wie genau eine Anweisung umgesetzt wird, hängt z.B. davon ab, daß möglichst wenige Stufen zu durchlaufen und kein großer Übersetzungsaufwand zu erbringen ist - ideal verwirklichet in einem armen Land mit starkem Glauben.
4.6.7 Die stufenweise Vereinfachung der Norm
Mit zunehmendem Druck vereinfacht sich die Norm; es vereinfachen sich die Seiten und Momente, die die Beziehungen der Bereiche untereinander bestimmen. Die Notwendigkeit des Handelns, die den Individuen bewußt wird, nötigt sie zum Verzicht auf Verzierungen, Umwege, Rücksichten und Einschränkungen. Im Status des relativen Wohlstandes treffen sich die Exponenten des Geisteslebens und diskutieren auf höchstem philosophischen Niveau in Frieden und Verständnis die letzten Verzweigungen und Konsequenzen ihrer jeweiligen Normen.
Hat man aber gemeinsame Grenzen, geht es um den Rang zweier ähnlicher Bereiche oder bestehen offene Ressourcenfragen, dann wird nicht mehr getalkt, dann wird gerüstet. Jetzt geht es nicht mehr um philosophische Konsequenzen, sondern um Unterschiede und sichtbare Differenzen. Der Glaube entscheidet die Zugehörigkeit und diese über den Status als Freund / Feind. Bei weiterer Zunahme des Druckes ist die Frage nach dem Glauben schon zu kompliziert; man wird sich nach der Sprache des anderen richten. Schließlich tritt die Situation ein, daß nur noch die Uniform eine Unterscheidungsmöglichkeit bietet und, wo auch diese nicht mehr zu erkennen ist, bleibt dann das Gesicht oder die Hautfarbe.
Es ist vielleicht kein Gesetz, daß Bereiche unter Druck in kriegerische Auseinandersetzungen geraten. Aber der Schutz der radikalen Norm durch die Ringe unterschiedlicher Intensität und die ständig zunehmende Steuerungsvollmacht der Hierarchie im Laufe ihrer Etablierung sind starke strukturelle Momente, die die Gesellschaft dahin treiben. In vorzivilisatorischen Stadien der Bereichsbildung jedenfalls haben sowohl der wachsende Streß im Individuum als auch die damit verbundene Konturierung der Bereiche explosive und blutige Formen der Dichteregelung zur Folge gehabt. Die Hochzivilisation hat es nicht besser gewußt. Lediglich der eigentlich nicht beabsichtigte Geburtenrückgang öffnete einen Weg aus Krieg und Verbrauch, durfte aber wegen des Wachstumszwangs nicht beschritten werden oder durch einige Katastrophen führen.
4.7 Moral
Es geht wieder um Bereiche, um die Bildung von Sozietäten aus Individuen. Individuen werden durch bestimmte Eigenschaften “ihren” Bereichen zugeordnet oder ordnen sich gemäß ihrem eigenen Interesse in Bereiche ein. Die Eigenschaft, auf Grund derer Individuen nicht nur ihre Zugehörigkeit belegen, sondern auch die Fähigkeit zu gemeinsamer gerichteter Bewegung erhalten, ist die Norm.
Die Norm, die vom Individuum aus gesehen oder gerechnet, den Bereich erhält, wird Moral genannt. Das Gegenteil davon, nämlich der Erhalt des Individuums auf Kosten des Bereichs, ist z.B. die Korruption.
Moral ist demzufolge in mehrfacher Hinsicht relativ: zum einen hängt die Beurteilung eines Individuums als moralisch oder nicht vom Standpunkt des Beurteilenden ab. Je nachdem, welchem Bereich der Beurteilende angehört, kann für ihn ein und dasselbe Individuum ein verrückter Terrorist oder ein selbstloser Märtyrer sein. Zum zweiten hängt, wie im vorangehenden Absatz angedeutet, die “Moralität” einer Handlung innerhalb eines Bereichs von ihrer Wirkungsrichtung ab. Das ist zu erläutern.
4.7.1 Enthalten vs. Umfassend
Eine Handlung zu meinem eigenen Vorteil oder Erhalt ist, wenn sie überhaupt moralischer Wertung unterworfen wird, nicht moralisch. Sie ist sogar amoralisch, wenn sie auf Kosten eines übergeordneten oder umfassenderen Bereichs geschieht. Ein Vorteilsgewinn auf Kosten der Familie oder des Stammes wird als amoralisch empfunden, weil man dem Größeren oder Umfassenderen nimmt und dem Kleineren oder Enthaltenen gibt. Ein individuelles Opfer für die Familie oder gar den Stamm gilt dagegen als moralisch; dort gibt der Kleinere dem Größeren. Ist dabei die Nation oder die Menschheit begünstigt, wird dem Spender ein Denkmal gesetzt.
Je größer und umfassender also der begünstigte Bereich ist, desto größer ist die Abstraktionsleistung zu seiner Erfassung und gleichzeitig die moralische Anstrengung zu seiner Begünstigung. Dies gilt auch auf den verschiedenen Zwischenstufen, innerhalb der Teilbereiche. Moralisch ist, was die Familie für den Stamm, der Stamm oder die Stadt für die Nation, die Nation für die Menschheit tut. Moral ist das Erhaltungsgesetz jener Bereiche, in denen der betrachtete Bereich enthalten ist.
Man erkennt wieder die Tragfähigkeit des Hierarchiebegriffes. Da der Großinquisitor und Jesus ihn nicht verwenden, kann ihre Diskussion nicht zum Abschluß gebracht werden. Mit ihm könnten sie sehen, daß sie über verschiedene Dinge reden, nämlich über verschiedene Hierarchie-Ebenen oder Bereichsgrößen. Der eine setzt das Gemeinwesen vor das Individuum, der andere will das Glück und den Schutz des Letzteren. Heraus kommt nur ein Mangel der Welt: das Gemeinwesen ist nicht liebeskompatibel. Der Grund ist einfach: in einer arbeitsteiligen Welt muß mindestens einer geben, damit andere nehmen und leben können.
4.7.2 Recht
Das Recht ist im Gegensatz zur Moral nicht das Erhaltungs- sondern das Bewegungsgesetz der Bereiche. Es regelt die Bewegung jedes Individuums, die es in Bezug auf andere Individuen oder Sachen ausführt und die Bewegungsweise des Gesamtbereichs. Alle beziehungs- oder bereichsrelevanten Handlungen sind durch das Recht kanalisiert. So gehört die Einhaltung des Rechts zunächst zum Erhalt des Bereichs. “Zunächst”, weil im Lauf der Verdichtung wegen veränderter Bedingungen das Recht nicht mehr kanalisiert, sondern staut. Veraltete Bestimmungen behindern den Ressourcenstrom, der sich entweder staut oder neue Bahnen sucht. Bildlich gesprochen verlaufen die meisten Bewegungen dann quer zu den Kanälen, d.h. zu den Regeln, die einer kleineren Gemeinschaft galten. Damit gibt es einen (Zeit-) Punkt, von dem ab der Bereichserhalt nur noch durch Änderung, Übertretung oder Revolutionierung des Rechts zu gewährleisten ist. Der Rechtsbruch wird allmählich zur Pflicht, zur Moral.
4.7.4 Erhalt des Guten -
Vernichtung des Bösen
Ein Widerspruch erwächst für die Kriterien moralischer Handlung, wenn der Erhalt eines Bereichs notwendig die Destruktion eines anderen nach sich zieht. Oder wenn der Erhalt in der Zukunft ein Opfer in der Gegenwart verlangt. Wo eine Familie nur durch Kinderarbeit überleben kann, ist eine große Nachkommenschaft gefordert. Andererseits werden gerade dort, wo Kinder die Einkünfte sichern, durch den Kindersegen die Elendsviertel zu Elendswüsten. Enthaltsamkeit könnte das Land retten, gefährdet aber die Familie. Eine moralische Anstrengung, die den Bereich retten könnte, wird so entwertet dadurch, daß sie seine Bestandteile gefährdet. Also müssen die Teile wachsen und das verbrauchen, was eigentlich das Ganze erhalten soll. Wir haben hier ein Moment jener Zwickmühle, die schließlich die Notwendigkeit des Wachstums mit der Endlichkeit der Ressourcen konfrontiert. Denn wenn die Familien wachsen, wächst auch die Stadt und wenn eine Stadt mit 20 Millionen Einwohnern einem Flüchtlingslager gleicht, wird sie mit 40 Millionen - ohne daß irgendjemand dies beabsichtigt - zum Vernichtungslager.
Oder: Ein Verzicht auf das Wachstum gefährdet durch den Zusammenbruch des Organisationsgrades die Menschheit. Ein weiteres Wachsen aber gefährdet die Biosphäre. Die Biosphäre ist der Bereich, der die Menschheit umfaßt, der also größer ist als sie und dem eigentlich die Menschheit - wenigstens zeitweise - zum Opfer gebracht werden müßte. Die Zirkelsatire erhält Realität dadurch, daß die Menschheit entgegen landläufiger Meinung nicht ohne Biosphäre existieren kann. Ausgerechnet diese beiden Bereiche machen die Moral- zur Existenzfrage ... ohne Antwort. Entscheidend ist der betrachtete Zeitraum: mittelfristig ist Wachstum unverzichtbar, langfristig der Rückbau. Eine Bestätigung des Wachstumszwanges ist die Tatsache, daß der Rückbau oder die Einführung der Sparsamkeit meist teurer sind als die Verschwendung.
Tatsächlich, auch die Einführung der Sparsamkeit: immer sind ja neben den gegenwärtigen die neuen sparsamen Anlagen zu erstellen. Wenn diese dann, wie zB die Windkraft, im Betrieb (hoffentlich nur vorläufig?) noch teurer sind als die Öl- und Kohlefresser, dann wird sogar der Rückbau über die Sparsamkeit schwierig. Ganz abgesehen davon, daß schwindender Verbrauch die Wirtschaft schädigt.
Die folgende Graphik erklärt die vorangegangene Definition von “Moral”: moralische Handlungen nützen dem übergeordneten oder umfassenden Bereich (schwarze Pfeile), amoralische nützen dem untergeordneten oder umfaßten Bereich (rote Pfeile).
Drittens ist zur Frage von mehr oder weniger Moralität eine Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Wenn durch ein kleines Opfer der Gemeinschaft ein großer individueller Vorteil z.B. das Leben eines Individuums zu haben ist, fordert auch die Moral dieses kleine Opfer, obwohl es vom umfassenderen Bereich zu erbringen ist.
Bei der Untersuchung dessen, was als Moral bezeichnet wird, kommt das Enthaltensein im Enthaltensein wieder zum Tragen. Die Nation ist in der Menschheit enthalten, der Stamm in der Nation, die Familie im Stamm usw. Die oben eingezeichneten Pfeile weisen in die Richtung eines Ressourcenstromes und zwar vom gebenden Bereich zum Nehmenden. So steht der mit “Altruismus” bezeichnete Pfeil für ein Opfer, das der Einzelne dem Stamm erbringt. Die schwarzen Pfeile, die vom kleineren zum größeren Bereich weisen, bezeichnen jetzt moralisches Handeln, die roten in der umgekehrten Richtung stehen für Amoralisches.
4.7.5 Norm und Moral
Während also Norm die gemeinsame Steuerung der Individuen ermöglicht, fordert Moral Beiträge zum Bereichserhalt. Dies kann, aber muß nicht die gemeinsame Tat sein. Es muß eine Tat sein, die auf jeden Fall dem Bereichserhalt dient. Genauer: das Opfer muß vom Enthaltenen an den Enthaltenden gehen. So definiert Moral den Bereich noch umfassender als die Norm. Trotzdem kann die Norm einen größeren Einfluß haben als die Moral: auch wenn sie nur einen Teilbereich oder eine Schicht definiert, ist sie - so in der Struktur verortet, daß sie die Steuerung ihrer Träger gewährleistet - auch gegen die Moral maßgebend für die Bereichsbewegung.
4.8 Zwei weitere Stützen des Bereichserhalts
4.8.1 Die “Ordnung an sich”
In der Geschichte findet man Kulturen, deren Dauer erstaunlich ist. Erstaunlich nicht, weil sich die Bemühung ihrer Konstituenten auf die Dauer ihres Bereichs gerichtet hätte, sondern weil sie dies gerade verweigerten. Militär, Verwaltung, Versorgung, Vorratshaltung waren nicht die Ziele, sie waren die Folgen einer übergeordneten Zielsetzung, die nichts mit Ressourcen zu tun hatte, sondern auf das Jenseits, auf die Sonne, auf die Ahnen etc. gerichtet war. Einer Zielsetzung, die nach heutigen Maßstäben eher eine Chimäre genannt werden müßte und eine Ressourcenverschwendung zur Folge hätte.
Aber die Bereiche dauerten. Pyramiden, Kathedralen und Paläste unterscheiden sich von Bergwerken, Äckern, Kanälen und Speichern zunächst dadurch, daß sie nichts hervorbringen oder verteilen, eher alles verschlingen, daß sie keine Quellen, sondern reine Senken für Ressourcen sind. Und trotzdem haben sie offenbar eine stabilisierende Wirkung auf den Gesamtbereich. Woher kommt diese Wirkung? Nun, zu solcherart Verschwendung von Ressourcen sind zielgerichtete Bewegungen nötig, die die Ressourcenströme des Bereichs beschleunigen und ordnen. Technik, Verwaltung, Produktion, ja die ganze Gesellschaft wird auf die Senke (die Pyramide, die Kathedrale, das Militär, die Spielerstadt, das Disneyland...) hingeordnet. Das heißt aber: sie wird geordnet.
Diese Folge des “Geordnetseins” ist nicht zu überschätzen. Man denke an einen verpaßten Anschluß, an das Chaos in der tätigen Exekutive, wenn Zuständigkeiten nicht geklärt sind, an die nerven- und kraftstoffzehrenden Bemühungen, in der Mangelwirtschaft ein winziges Ersatzteil zu lokalisieren, an einen Computerausfall in der sog. Überflußgesellschaft, an ein fehlendes Dokument bei jedwedem Antrag, aber auch an die Verzweiflung bei dem Versuch, eine funktionierende Ordnung auf dem Weg in den Zusammenbruch zu stoppen. Ordnung ist eine erhaltende Macht. (...natürlich nur solange, bis ihre psychischen und materiellen Kosten den Bereich überanstrengen)
Diese Macht akzeptiert, erkennen wir den rationalen Hintergrund jener meist irrational-hierarchisch motivierten Forderungen nach einem Glauben fürs Volk, einem Ideal, das die Menschen befolgen oder einer höheren, wenn auch undurchschaubaren Vernunft, die sie anerkennen sollen.
4.8.2 Die Macht der Kontingenz;
Kontingenz als ein Gesetz des Gehorsams und
als Stütze der Folgebereitschaft
Natürlich treibt der Zufall sein Wesen auch mit den Lenkern. An den Verzweigungs- oder Kulminationspunkten der Geschichte standen ganze Reiche mit ihren Herrschern vor Sieg oder Zusammenbruch. Die Faszination von großen Schlachten beruht nicht nur auf dem Wirken schrecklicher und interessanter Waffen, auf Mord und Tod, sondern auf der Tatsache, daß sie einen Verzweigungspunkt im Ablauf der Geschichte darstellen. Sie entscheiden über die Ausdehnung oder das Verschwinden ganzer Bereiche oder ihrer Ordnungen. An einem Verzweigungspunkt liegen alle Regelmäßigkeiten, Gesetze, Tendenzen, Zyklen usw. in der Hand des Zufalls. Hier ist die Analogie zur Freiheit bei der Wandlung von Information in Aktion; der freie Wille, zB von der Fliege an der Wand, von kaum meßbaren Auslöse-Ereignissen bzw. Informationen gesteuert, entscheidet über Aufstehen oder Liegenbleiben, also über die Bewegung eines menschlichen Körpers oder ganzer Gesellschaften. Diese Folge-Zustände und ihr Gegenteil liegen (an Verzweigungspunkten, also dort, wo die Entscheidung noch gleichgültig zu sein scheint) so dicht beieinander, daß kleinste Einflüsse (Fliege oder nicht) über ihr Eintreten entscheiden.
Aber das ununterbrochene alltägliche Wirken des Zufalls bekommen vor allem die Gelenkten, die Individuen der unteren Ebenen zu spüren. Wer erwischt wird oder davonkommt, wer gewinnt oder verliert, wen die Seuche trifft oder wen sie verschont, wer überlebt oder stirbt, entscheidet sich da unten ohne jede Möglichkeit der Einflußnahme seitens der Betroffenen.
Zugleich ist der Zufall ein Gesetz des Gehorsams. So wie er einerseits die Betroffenen an das Schicksal ausliefert, so ermöglicht er andererseits die Durchsetzung von Befehlen, die bis zu neun von zehn Beteiligten dahinraffen. In dem Falle verliert ja nicht jeder neun Zehntel seines Lebens, sondern es überlebt jeder Zehnte. Ein zehntel Hoffnung überwindet die Gewißheit der Sanktion - der Ungehorsam wird auf jeden Fall bestraft. Die Folgen des Gehorsams - Tod und Verwundung - aber sind ungewiß. Die psychologische Verrechnung des Risikos läßt uns den ungewissen Tod für die gewisse Strafe in Kauf nehmen.
Analog zum Sterben muß beim Töten die Kontingenz bemüht werden. Unter der scharfen Munition für einen Exekutionspeloton befindet sich immer eine Platzpatrone. Sie suggeriert jedem Beteiligten eine gewisse von Null verschiedene und durch das Streben nach Entlastung verstärkte Wahrscheinlichkeit dafür, daß er kein Mörder gewesen sein muß. So konturiert sogar Statistik die Hierarchie.
In den beiden genannten Beispielen erlaubt sie (die Statistik) die Lenkung von Bereichen weitgehend gegen den Willen der sie bildenden Individuen. Wo deren Auswahl dem Wirken des Zufalls überlassen bleibt, fühlen sich zwar alle betroffen, aber nicht mit Sicherheit. Das Prinzip Hoffnung drückt die Wahrscheinlichkeit dafür weit unter das mathematische Maß. M.a.W. der Überzeugungs-, Kontroll- und Lenkungsaufwand für einen Bereich kann durch das psychologische Wirken des Zufalls / der Hoffnung minimiert werden.
Anhang zur Einfügg in Buch_4
Zur Psychologie der Hierarchie
Es gab calvinistische Sekten, deren Angehörige sich für Erwählte (electi) hielten, obwohl Gott über die Erwählung nichts hatte verlauten lassen. Dies hätte man als unschädlich für Abweichungen hinnehmen können, wäre da nicht zugleich die Gewißheit über deren Strafwürdigkeit gewesen. Die Verworfenen überließ man nämlich nicht dem himmlischen Gericht, sondern fühlte sich verpflichtet, sie auf Erden zu piesacken. Was trotz der Gewißheit geschah, daß ihre vorbestimmte Verworfenheit dadurch nicht zu ändern war. Psychologisch ist der Glaube hier ein Vehikel des Sadismus, strukturell aber eine Stütze der Ordnung.
Nun, der fromme Sadismus ist ein bekanntes Phänomen, aber die Suche nach Mitgläubigen hat vielfältige Ursachen. Einmal sind die Geretteten gewissermaßen die Kinder des Missionars, und darüberhinaus durch das gemeinsame Verständnis die Lenkbaren seiner Auftraggeber - beides kommt dem Selbstbewußtsein, dem Selbstgefühl zugute. Ihre Zunahme entspricht dem Wachstum des eigenen Bereichs und damit der Festigung der Gewißheiten. Letzten Endes wird, und das ist wohl das stärkste Motiv aller Mission, das Weltbild stabilisiert. Millionen Gläubige können sich nicht irren. Auch wenn sie die Wahrheit nicht wissen - sie sind die Wahrheit.